Hanna Veiler
Ich leerte den Inhalt meiner Tasche auf meinem Teppich aus. Meine Freundinnen und ich saßen im Kreis auf dem Boden und bestaunten unser Diebesgut. Eine Stunde zuvor waren wir im Müller. Wir hatten alles mitgehen lassen. Schminke, Nagellack und Parfüm. Es war so einfach. Man musste nur den Aufkleber mit dem Strichcode abziehen und das Produkt einstecken, solange es niemand sah.
Wir waren alle Jüdinnen. Aber niemand von uns hatte je Shabbat, Chanukka oder Purim gefeiert. Doch uns allen war Nowij God heilig. Keine von uns hatte zu diesem Zeitpunkt nennenswerte Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, aber wir alle schämten uns für unsere Namen, den russischen Akzent unserer Eltern und die Art und Weise wie unsere Wohnungen eingerichtet waren. Unser Fremdsein und die Scham hatten uns zusammengebracht. Ich war die einzige im Freundeskreis, deren Eltern es geschafft hatten, ihre Diplome anerkannt zu bekommen. Die Eltern der anderen lebten von Harzt IV, die Mütter putzen und die Väter tranken. Ich hatte es nicht nötig zu klauen. Ich tat es aus Langeweile. In der verbonzten Kleinstadt, in der wir lebten, waren wir unsichtbar. Niemand hatte an uns gedacht. Also verbrachten wir unsere Freizeit auf Parkbänken und Aussichtspunkten, wir tranken und kifften zwischen teuren Autos und Gucci Stores. Etwas später erklärte mir ein Mitschüler, Juden würden die Welt beherrschen. Ich dachte an meine Freundinnen, an meine und ihre Familien. Wir beherrschten gar nichts. Wir klauten billige Schminke, um die Scham zu überdecken. Wir tranken viel zu früh viel zu viel, um bemerkt zu werden. Wenn man sich Juden vorstellt, denken alle an die Rothschilds und Mandelbaums dieser Welt. Aber wer denkt an die Vejler, Basinas und Dudkinas? Wir waren unsichtbar und wir bleiben es noch immer. Wer also denkt an uns?
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