Rachel Spicker
Jeden Morgen ist einer meiner ersten Gedanken der 7. Oktober. Mit diesem Aufwachen kommen Wellen der Angst und Verzweiflung. Ein paar Gedanken später macht sich Trauer breit. Sie wandert aus meinem Bauch in meine Arme, meinen Nacken und meinen Hals hoch, treibt mir die Tränen in die Augen. Manchmal sind es keine Tränen, sondern Leere, die sich Erschöpfung nennt. Manchmal macht sich Scham breit, davon so berührt zu sein. Ich wohne nicht in Israel. Ich habe bisher keine Familie und keine direkten Freund*innen verloren. Ein Privileg. Darf ich in dem Ausmaß fühlen? Wie lange gilt dieses Privileg noch? Wer ist heute Nacht gestorben, wer stirbt morgen?
Ein nicht endender Zyklus des Trauerns.
Jüdische Trauerrituale sind eng getaktet: Aninut, die Zeit vor der Beerdigung, Shiva und Shloshim, die ersten sieben bzw. 30 Tage nach der Beerdigung, Shnat Ha-Evel, das erste Trauerjahr, Yahrzeit, der jährliche Todestag. Die Trauerrituale erfüllen zwei Funktionen, sie sollen die Toten ehren (Kavod haMet) und den Lebenden Trost spenden (Nihum Avelim). Sie dienen dazu, der Trauer Raum zu geben und den Trauernden ein Ankommen in der Realität zu ermöglichen. Wie trauern wir aber, wenn der Horror nicht endet? Wie trauern wir, wenn wir keine Familie und Freund*innen verloren haben? Wie trauern wir, wenn geleugnet wird? Wie trauern wir, wenn wir selbst angegriffen werden? Wie trauern wir, wenn wir dabei ständig beobachtet und viktimisiert werden? Wie trauern wir, wenn wir nicht in diese Realität zurückwollen, die sich uns offenbart?
„Ich weiß nicht, wohin mit meiner Trauer”, höre ich häufig von fellow Jews. Viele von uns gehen in Aktion, klären über den 7. Oktober, sexualisierte Gewalt und (israelbezogenen) Antisemitismus auf, gehen auf Demonstrationen für die nach Gaza verschleppten Geiseln, gegen den Krieg und die vielen palästinensischen Toten, organisieren communityinterne und -übergreifende Austausche, leisten Freiwilligenarbeit in Israel, sorgen dafür, dass diasporische Communities gestärkt werden und besuchen G’ttesdienste. Es kann ein wichtiger Teil sein, mit der Hilflosigkeit umzugehen, Perspektiven sichtbar zu machen und Gefühle einzuordnen. Es kann aber auch dazu führen, Trauer nicht zuzulassen, sondern zu verdrängen. Um Kavod haMet (die Toten ehren) und NihumAvelim (den Lebenden Trost spenden) zu ermöglichen, braucht es aber eine Auseinandersetzung mit der Trauer. Wo sind Räume, um Trauer und Schmerz zuzulassen, was hilft mir dabei, genau das zu tun?
In G’ttesdienste und an Community-Orte gehen, die Namen und Geschichten der Getöteten und Geiseln lesen, Musik hören, das Gespräch mit Freund*innen suchen, meine Gefühle zum Tod von Yotam Haim z“l aufschreiben, allein im Café sitzen und in die Leere starren. Das waren für mich Versuche, dem nicht enden wollenden Zyklus des Trauerns Raum zu geben, aber es reicht nicht. Wie trauert ihr? Wonach seid ihr auf der Suche, was habt ihr schon gefunden? Ich würde mir wünschen, dass wir dazu ins Gespräch kommen, unsere Trauerzyklen benennen und sie gemeinsam in Worte und Räume gießen.
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