Chiara Lipp, aus unserer Reihe „Feministische Größen im Judentum“
Blumenschmuck soweit das Auge reicht, der Duft von frischem Käsekuchen in der Luft – Schawuot, eines unserer drei Wallfahrtsfeste, steht kurz bevor. Während der Schawuot G-ttesdienste und der Tikkun Leil Schawuot, der traditionellen Lernnacht in der Synagoge, wird, neben verschiedener Texte aus der Tora und dem Talmud, auch das Buch Ruth gelesen. Ein Buch über eine junge Moabiterin, die sich nach dem Tod ihres Ehemannes für das Verlassen ihrer vertrauten Heimat und die Begleitung ihrer Schwiegermutter in ein ihr fremdes Land entscheidet und dort heiratet. So könnte man das Buch Ruth in aller Kürze zusammenfassen. Doch hinter der Geschichte von Ruth und Naomi steckt weit mehr. Charakteristisch für das Buch Ruth wird häufig der Abschnitt: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.[…]” (Ruth 1: 16 -17) genannt. Doch was genau bedeutet er?
Betrachten wir zunächst den ersten Teil des Satzes. Ruth spricht Naomi direkt an und macht ihr deutlich, dass sie sie nicht verlassen und mit ihr gehen wird. Interessant ist hierbei die Gegenüberstellung der Verben „hingehen und bleiben“. Sie betont damit, dass ihre Loyalität und ihre Zukunft an Naomi gebunden sind. Sie spricht von keinem konkreten Ort, an dem sie sich ihr Leben vorstellt. „Home is wherever I’m with you“ würden wir es vielleicht heute nennen.
Der zweite Teil des Satzes beleuchtet eine neue Komponente. Es geht nicht mehr nur um Naomi, sondern auch um ihr Volk. Das jüdische Volk. Ruth macht deutlich, dass sie sich nicht nur ihrer Schwiegermutter, sondern auch ihrem Volk zugehörig fühlt. Ein großer Schritt, bedenkt man die damalige Feindschaft und Auseinandersetzungen zwischen den Moabitern und dem Volk Israels.
Der letzte Teil des Satzes ist meiner Ansicht nach der spannendste und persönlichste Teil des Satzes. Dein Gott ist mein Gott! Dies ist für mich ein klares Bekenntnis von Seiten Ruths zum jüdischen Glauben. Auch in der Literatur wird Ruth häufig als eine der ersten Konvertitinnen zum Judentum betrachtet (vgl. Meir 2009). Gerade heute, wo es vereinzelt noch immer Misstrauen gegenüber Konvertitinnen und Konvertiten gibt, ist dies eine so wichtige Botschaft. Ruth, die Vorfahrin König Davids, trat aus tiefster Überzeugung zum Judentum über und wurde Teil des Volkes Israels. Doch war sie dies nicht vielleicht schon immer? Glaubt man der jüdischen Mystik, so hatte jede Person, die den Giur offiziell vollzogen hat, eigentlich schon immer eine jüdische Seele, die nun zurück in den jüdischen Körper findet. Doch ist dieser Prozess keinesfalls einfach und bedarf eines starken Willens. Vor, während und nach dem jahrelangen Konversionsprozess wird der Glaube, das Vertrauen und das Durchhaltevermögen immer wieder getestet. Man durchläuft eine „zweite Pubertät“, wie meine Rabbinerin zu sagen pflegt.
Doch was hat dies nun mit Schawuot zu tun? An diesem Fest feiern wir neben der Weizenernte vor allem den Erhalt der Torah, unserer heiligsten Schrift, sowie den Erhalt der 613 Mitzwot, unsere Ge- und Verbote. Am Berge Sinai nahmen wir sie an und versprachen, diese zu halten und unser Leben danach auszurichten. Ist dies nicht genau das, was noch heute vor einem Beit Din geschieht? Der Giur ist übertragen ein Startschuss in das jüdische Leben, der Beginn einer langen Reise. Genau dies geschah am Berg Sinai. Haschem wählte das Volk Israels aus, seine Mitzwot zu erfüllen. Die B‘nai Israel nahmen sie an und wurden zu seinem Volk! Doch wird bei der Betrachtung der letzten Jahrtausende deutlich, dass auch ihnen unzählige Herausforderungen begegnen werden. Diese ließen unser Volk jedoch nur stärker werden. Stark, stolz und resilient! Egal ob säkular, liberal, Masorti, orthodox, aschkenasisch, Sephardim oder Mizrachim, konvertiert oder durch Geburt jüdisch … Wir all sind עֵדָה
Chag Schavuot sameach!
Meir, Tamar. „Ruth: Midrash and Aggadah.“ Shalvi/Hyman Encyclopedia of Jewish Women. 20 March 2009. Jewish Women’s Archive. (Viewed on May 29, 2024) <http://jwa.org/encyclopedia/article/ruth-midrash-and-aggadah>.
Erklärungen:
Tikkun Leil Schawuot – Traditionelle Lernnacht zu Schawuot in der Synagoge
Moabiterin – Teil des Volkes der Moabiter das östlich des Toten Meeres und südlich des Arnon im Land Moab lebte
Kabbala – Jüdische Mystik
Giur – offizieller Übertritt zum Judentum
Haschem – Name für den Ewigen (G’tt)
Mitzwot – Ge- und Verbote im Judentum
B‘nai Israel – Volk Israels (direkt übersetzt: Söhne Israels)
Hilonim – säkulare Juden
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