Alexandra Krioukov und Philipp Bravos
Neutralität ist eine Verlockung. Man ist fein raus und in alle Richtungen abgesichert. Aber was ist eigentlich Neutralität? Die Chanukkia verstößt gegen „Neutralität“, doch der Weihnachtsbaum ist ein allgemeines Zeichen des Friedens. Wer entscheidet?
Rechtlich vorerst das Bundesverwaltungsgericht – zumindest, wenn es um Kreuze in Bayern geht. Es ist folgendes in der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zu lesen: „Nach dem Kontext und Zweck der Verwendung des Kreuzsymbols identifiziert sich der Freistaat Bayern durch die Aufhängung von Kreuzen nicht mit christlichen Glaubenssätzen. Schon nach dem Wortlaut der im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlichten Regelung (…) soll das Kreuz vielmehr Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns sein.“ Vorher sagt die Mitteilung: „Die angebrachten Kreuze stellen (…) für den objektiven Betrachter ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens dar“. Das Gericht erkennt die objektive Bedeutung des Kreuzes, übergeht dies aber für die Intention des Gesetzes; als würde sich der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates anhand von Intentionen beurteilen lassen. Anstelle von Wahrnehmung oder besser noch objektiven Merkmalen. So lässt sich vieles im richtigen Framing als neutral deuten.
Bestimmt ohne Absicht und doch eindeutig zeigt dies, aus welcher Perspektive hier geurteilt wurde: aus der Mitte der Mehrheitsgesellschaft. Kreuze seien neutral, weil diese zur Kultur gehören. Solche Entscheidungen wandeln die Mehrheits- in eine Dominanzgesellschaft. Was ist mit Bürger*innen, die sich unwohl fühlen, die nicht die „neutrale“ geschichtliche und kulturelle Prägung Bayerns darin sehen? Auf die ausgesprochene Botschaft, das Kreuz gehöre zu Bayern – also neutral -, folgt eine unausgesprochene Botschaft, wer alles nicht dazu gehört. Manchmal verrät der Titel „Neutral“ nicht, was betrachtet wird, sondern bloß, wer es betrachtet. Es zeigt schlicht, wo die Prioritäten liegen: bei Kreuz und Tradition.
Es lohnt sich, weiter über den Begriff der Neutralität nachzudenken. Neutralität ist eine Verlockung, weil sie relativ ist, weil ihr das vermeintlich moralisch überlegene „Sowohl-als-auch” als Grundlage dient, weil Gleichgültigkeit oder schlimmer noch verdeckte Parteilichkeit einen wohlklingenden Namen erhält.
Neutralität ist kein Selbstzweck, sondern – im politischen Raum – das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses über die Frage, gegenüber welchen Gegenständen aus welchen Gründen Neutralität geboten ist. Neutralität kann nicht neutral begründet werden, sie braucht gute Gründe. Sie kann nur am Ende einer Entscheidung stehen. Als eine vorgelagerte Entscheidung ist sie immer schon eine qualitative Positionierung, aber mit guten Gründen ist sie eine legitime Indifferenz.
Zu der Frage, wie man mit rechtsextremen antidemokratischen Kräften, wie der AfD, umgeht, kann sich zum Beispiel niemand neutral verhalten, der sich demokratisch nennt. In dieser Frage kann eine neutrale Positionierung niemals gleichzeitig eine pro demokratische sein, da das Feld möglicher demokratischer Positionierungen sich auf eine einzige Wahl reduziert. Eine Positionierung außerhalb dieses Spektrums ist automatisch eine gegen die Demokratie und somit bereits nicht mehr eine Positionierung dazwischen. Die Möglichkeit eines Dazwischens, einer Enthaltung ist illusorisch, wenn alles andere als dafür de facto dagegen bedeutet. Karl Popper nannte die Einsicht in diese Absolutheit das Toleranzparadoxon: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Die AfD verlässt diesen Rahmen mit den allermeisten ihrer Positionierungen. Bereits das Eingehen auf gewisse Diskurse zwingt einen, selbst den Rahmen der demokratischen Neutralität zu verlassen, weil es unmöglich ist, diesen Diskurs zu führen, ohne seinen Inhalt zu normalisieren. Manchmal darf man nicht Argument gegen Argument stehen lassen – da der Anschein der Gleichwertigkeit bereits fatal ist. Hier darf man entweder nicht in den Diskurs gehen oder man muss diesen im selben Moment, in dem man sich mit ihm beschäftigt, einordnen und dekonstruieren.
Im Zusammenhang mit der Diskussion um ein AfD-Verbot heißt es oft, ein Verbot sei undemokratisch. Als sei die Demokratie dazu verpflichtet, alles Mögliche zuzulassen und apathisch, neutral zuzuschauen! Aber was sind gute Gründe für eine „Neutralität“, wo es kein „neutral“ gibt, wo kein Dagegen ein Dafür ist? Unser Grundgesetz, der Kern unserer Demokratie, gibt uns explizit Mittel für ein Parteiverbot an die Hand. Solche Instrumente sind in sich nicht undemokratisch, sondern im Gegenteil entscheidende Werkzeuge der Demokratie zu ihrer Verteidigung. Das Verweigern der Intoleranz gegenüber Intoleranten bereitet stets ihren Nährboden.
Elie Wiesel hat zu Neutralität und ihren Gefahren in seiner Friedensnobelpreis Annahme Rede treffende Worte gefunden: „We must always take sides. Neutrality helps the oppressor, never the victim. Silence encourages the tormentor, never the tormented. Sometimes we must interfere. When human lives are endangered, when human dignity is in jeopardy, national borders and sensitivities become irrelevant. Wherever men or women are persecuted because of their race, religion, or political views, that place must – at that moment – become the center of the universe. And action is the only remedy to indifference: the most insidious danger of all.“ Er sagte auch: „The opposite of love is not hate, but indifference.“
Ein Tun oder Lassen und alles dazwischen sind Handlungen, es gibt keine Positionierung im Vakuum. Neutralität ist eine Entscheidung.
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