Richard Ettinger, Chefredakteur
Es ist Berliner Spätsommer; die dunklen Wintermonate scheinen noch fern und das Leben wirkt unbeschwert mit all den Möglichkeiten, die diese Stadt zu bieten hat. Identitäten sind mannigfaltig vertreten und werden genährt von einem vergleichslosen Pluralismus. Berlin und seine Universitäten stehen für ein offenes und kulturliebendes Deutschland. Deswegen bin ich
hergekommen in dieses vielgesichtige, vulgärschöne Künstlernest. Dafür nimmt man unendliche Wohnungssuchen in Kauf und wird mitsamt seinen sieben Sachen zum „Wanderzirkus“, wie ich liebevoll betitelt wurde.
Und dann kam der 7. Oktober.
Wie die vielen jungen jüdischen Autoren in diesem Sammelwerk möchte ich es auch so nennen: eine Zäsur für unser Volk. Der 7. Oktober war ein Ereignis, das sich als dunkler Tag in die Geschichte unseres Volkes eingebrannt hat. Mit niedersten unmenschlichen Handlungen traf
man in unser Herz, in die Zukunft, unstrittig in unseren wertvollsten Schatz – die unbeschwerte Jugend. Die folgenden Wochen bewiesen, wie schnell der Tsunami des Hasses Flutwellen der Gewalt in alle Teile dieser Welt brachte und zu antisemitischen Überschwemmungen führte. Es fühlte sich so an, als hätten die Stauseen nur darauf gewartet, zu zerbersten. Eine bisher in ihrem Ausmaß ungekannte Polarisierung löste Bündnisse auf, zerschlug Freundschaften und sorgte für eine tiefe Kluft – unklar, ob wir uns jemals davon erholen werden. Es ist ein „selektiver Humanismus“, wie es Shahak Shapira sinngebend für diesen Konflikt bezeichnete,
der unsere Gesellschaft spaltet.
Mit der ungeahnten Verantwortung dieser Ereignisse versuchte das Redaktionsteam den Spagat zwischen jüdisch-studentischen Lebenswelten und der angehenden Traumaverarbeitung des 7. Oktobers zu schaffen. Für einige Mitglieder der Redaktion, die zum Vorstand der JSUD gehören, wurde das Auseinandersetzen mit antisemitischer Hetze, die unter dem Deckmantel einer humanistischen Meinungsfreiheit geführt wurde, zum Tagesgeschäft. Allen voran Präsidentin Hanna Veiler, die sich wie eine Löwin in unzähligen, sehr persönlichen Stellungnahmen auf Social Media und in Interviews vor ihre jüdischen Kommilitonen warf. Die vergangenen Monate zeigten, dass die studentische Stimme zu der gewichtigsten in der deutschen Presselandschaft geworden ist. Bedauerlicherweise waren es gewalttätige Vorfälle, die Universitäten zu dem Epizentrum des Nahost-Konflikts in Deutschland machten.
EDA ist hebräisch und bedeutet Glaubensgemeinschaft.
Ich wurde bemitleidet, dass ich in einem so politisch aufgeladenen Umfeld studiere. Ich bin mir sicher, dass ich an einer anderen Bildungsstätte weniger schlaflose Nächte gehabt hätte. Aber ich muss sagen, dass ich glücklich bin, an der FU zu sein. Auch ohne mich in ein politisches Engagement zu stürzen, bin ich sicher, dass meine Präsenz und mein Aktivismus in der Kunstszene durchaus Einfluss haben. Am 13. Dezember organisierten wir ein Open Mic an der Uni, das einen interkulturellen, interreligiösen und queer freundlichen Safe Space für Kunst-, Musik- und Literaturschaffende bot – ein voller Erfolg mit über 50 Besuchern. Am nächsten Tag wurde ein Hörsaal von Demonstranten besetzt und endete in einer handgreiflichen Auseinandersetzung von zwei kulturellen, religiösen und politischen Antipolen.
Wir sind seit Monaten demoralisiert und traumatisiert – und zwar in solch einem Ausmaß, dass wir nicht die Möglichkeit sehen, neue Traumata zu verarbeiten und zu verstehen, dass eine feindselige Haltung nur Brennstoff für eine Weiterführung der Gewaltspirale ist.
„Es ist ein verdammt komplizierter Konflikt“, höre ich mich immer wieder sagen, um zu veranschaulichen, dass ich Sachen sehe, Gründe verstehe, aber mir das große Ganze verborgen bleibt.
Lokale als auch globale Nachrichten bieten keine Hilfe. Am Morgen sprechen sie die absolute Wahrheit, die am Abend wieder hinfällig ist. Stimmen erheben sich, die meinen, sie wüssten besser Bescheid über das, was gerade passiert. „TikTok-University“ – eine Wortzusammensetzung, die genau das beschreibt, was sie ist: Eine Entertainmentplattform, die ungefilterte Inhalte von Personen teilt, die sich von einem auf den anderen Tag von Selbstdarstellern, Musikern und Künstlern zu Politikverstehern verwandeln. Die Verwirrung ist perfekt, und doch befinden sich derzeit 130 Geiseln in Gefangenschaft.
Wir stellten uns also die Frage: Wie schafft man es, die aktuellen Geschehnisse zu thematisieren und trotzdem dem Leser die Möglichkeit zu geben, darüber zu reflektieren? Welches Mittel kann hier als Coping Mechanismus funktionieren?
Ich bin überaus glücklich, dass wir ruth__lol für die Mitgestaltung an dem Magazin gewinnen konnten. Ich zitiere aus der PN, in der ich mich erstmalig über Instagram an sie gewendet habe:
HELLO RUTH!
DU BIST TREND UND AUS MEINEM FEED NICHT MEHR WEGZUDENKEN. NEIN, ERNSTHAFT, DU SCHAFFST ES UNS GERADE GUT ÜBER EINE VERDAMMT HARTE ZEIT ZU BRINGEN UND EIN KLEINES SMIRKING AUF DAS
VOM DOOMSCROLLING MATTE GESICHT ZU BRINGEN. WIE, WENN NICHT MIT HUMOR? HABEN WIR NICHT SELF-DEPRECATING HUMOR ERFUNDEN?
Ich sehne mich zurück in den Spätsommer 2023, bevor der Nahost-Konflikt wieder aufflammte.
Einen Lichtblick in eine gemeinsame Richtung sehe ich in diesem Magazin. Es gibt mir Sicherheit, wenn ich sehe, mit welcher Hingabe das Team daran arbeitet, damit wir als Gemeinschaft weiterhin beweisen, dass wir ein Teil dieser Gesellschaft sind und händereichend in eine vielversprechende Zukunft blicken.
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