Words with Hanna

6/10/24

Part I der Kolumne „Words with Hanna“ von Hanna Veiler

Hanna Veiler ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion und Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students. In ihrer Kolumne „Words with Hanna“ reflektiert sie über aktuelle Ereignisse, den Zustand der Community und nimmt uns hinter die Kulissen mit.

Als ich vergangenen Sonntag meine Augen öffnete, machte meine Hand dieselbe reflexartige Bewegung wie jeden Morgen und griff zum Handy. Ich war noch ein wenig verkatert vom Abend zuvor. Es war der letzte Tag des Jewish Women Empowerment Summits und wir hatten die letzten vier Tage damit verbracht, über die Auswirkungen des 7. Oktobers auf jüdische Frauen und nicht-binäre Personen im deutschsprachigen Raum zu diskutieren. Am Abend zuvor haben wir gemeinsam getanzt und uns an den Satz erinnert, der uns seit 11 Monaten begleitet: We will dance again. Wir versuchten, uns gegenseitig das Gefühl zu geben, dass wir zusammenhalten würden, um es durch diese schwierige Zeit zu schaffen.

Dann wachten wir am Sonntag auf. Sobald ich Instagram geöffnet hatte, leuchteten die Gesichter von Hersh, Eden, Carmel, Ori, Almog und Alexander auf meinem Bildschirm auf und da war es wieder, das Gefühl, das ich in dieser Intensität seit dem Morgen des 7. Oktobers nicht mehr gespürt hatte. Ein Schlag in die Magengrube, gefolgt davon, es nicht wahrhaben zu wollen. Es musste ein Fehler sein. Es mussten Fake News sein. Ich wollte mein Handy sofort an die Wand werfen, mich zurück ins Bett verkriechen und so tun, als hätten die letzten fünf Minuten nicht stattgefunden. Aber ich scrollte weiter und je mehr ich das tat, desto mehr kam die Gewissheit: Wir haben es nicht geschafft, sie zu retten. Sofort dachte ich daran, was die Familien in diesem Moment durchmachten. Familien, deren Angehörige ich teilweise persönlich kannte. Noch vor wenigen Monaten hatte ich in Berlin mit Alon Gat, dem Bruder von Carmel, gesprochen. Noch vor wenigen Wochen, traf ich ihn zufällig auf einer Demo in Tel Aviv. Wir sprachen darüber, was wir aus Deutschland aus tun konnten, um die Befreiung seiner Schwester aus der Gefangenschaft zu erzielen. In diesem Moment wurde mir klar: wir hatten versagt.

Je mehr ich in den darauffolgenden Tagen darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, was der 7. Oktober tatsächlich für uns bedeutet hatte. Er bedeutete, dass Menschen, die wir nie zuvor getroffen hatten, plötzlich so wichtig für uns wurden, als wären sie unsere eigene Familie. Wir hatten uns in den vergangenen Monaten so intensiv mit ihrem Leben und ihren Schicksalen beschäftigt, dass wir uns einbildeten, ihren Schmerz, den wir in der Realität niemals hätten nachvollziehen können, in unseren eigenen Körpern zu spüren. Und wir fühlten uns verantwortlich dafür, dass ihre Rettung zu spät kam.

Das beschriebene Phänomen ist leider kein Neues für die jüdische Gemeinschaft. Zahlreiche Überlebende der Shoah berichteten auch Jahrzehnte nach ihrem Überleben von der sogenannten Survivor Guilt, die sie plagte. Selbst jene sprachen davon, die nicht in Lagern oder Ghettos überlebt hatten, sondern zum Beispiel zu diesem Zeitpunkt bereits ins damals noch britische Mandatsgebiet Palästina ausgereist waren. Während sie „in Sicherheit“ ausgeharrt hatten, schauten sie dabei zu, wie ihre Familien und Freunde auf dem Europäischen Kontinent ausgelöscht wurden.

Diese Wirkung auf die Jüdische Gemeinschaft weltweit, ist Teil der perfiden hybriden Kriegsführung der Hamas. Durch das Streamen ihrer Verbrechen in die Welt, sollte jeder jüdischen Person bewusst werden, egal, wo auf der Welt sie sich aufhielt, dass es auch sie hätte treffen können. Kein Wunder also, dass jüdische Studierende in Deutschland von Alpträumen berichten, in denen ihre Familien ermordet werden. Kein Wunder, dass jüdische Studierende davon berichten, eine Retraumatisierung zu durchleben, die für sie jederzeit wiederaufrufbar auf ihren Bildschirmen scheint.

Bei all den Kämpfen, die es aktuell zu führen gilt, wird die jüdische Gemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten mehr denn je ihren Blick nach innen richten müssen. Psychosoziale Angebote und Fürsorge für die Gemeinschaft sind in ihren Ursprüngen jüdische Konzepte, die wir noch weiter ausbauen müssen. Wir müssen jetzt mehr als jemals zuvor füreinander da sein, füreinander einstehen und eine Politik der gegenseitigen Fürsorge praktizieren. Einen anderen Weg gibt es nicht.