09/10/24
Den Artikel in deutscher Übersetzung findet ihr unten.
Jeremy Borovitz is the Rabbi and Chief Programming Officer for Hillel Deutschland. Originally from New Jersey, he has previously lived in Poland, Ukraine, and Israel. He lives in Berlin with his wife, Rabbi Rebecca Blady, and their three children.
When I was 17 months old, I wiggled out of my mothers lap and began screaming for my father. “Da, Da,” I cried. My father left his place on the Bima, where he was giving a Kavannah in the Neilah service of Yom Kippur, and held me in his arms for the rest of the service.
When I was 32 years old, as I finally got on the bus outside the synagogue in Halle, Germany that was just attacked, my daughter, just 15 months old, upon seeing me, cried in delight. “Papa,” she cried, and I cried too, and our wrinkle in time was tinged with the spectrum of tragedy and delight.
It’s hard to believe that five years have passed since I stood in the Halle synagogue on Yom Kippur and my life changed forever. That day is simultaneously ever-present and like a vision from another world, a memory clouded by the haze of trauma.
But as hard as it can be to look back, sometimes looking forward can be even harder. I was attacked by a far-right extremist, and a far-right extremist party has now gained a plurality of the vote in Germany. Are we safe here? And if not, where can we go?
These are questions I asked myself five years ago on October 9th, and questions I ask myself today. And I don’t have an answer, but I do have hope.
Because while many memories of that day are hazy, some memories are as clear as if they were today. I remember arriving at the hospital from the bus, and the staff who greeted us at the door, toys in hand for our young daughter. I remember the woman who played with her for hours. And I remember Dr. Hendrik Liedtke, who prevented others from interrupting our Neilah prayer, and who afterwards brought us all a beer, after I assured him it was Kosher.
Neïlah ist der Abschluss und der Höhepunkt des gemeinsamen Gebetes am Jom Kippur
Last year, my wife and family and I returned to Halle for Yom Kippur. It was mostly uneventful. The prayers were lovely, the company was kind. And at the end of Neilah, in walked Dr. Liedtke with a crate of beer. As has become his custom, he now brings beer to the Halle community every year at the end of Yom Kippur. And as we sat together drinking our Lagers, he told me he’ll be back next year, and the year after that, and he’ll keep coming for as long as he can.
Today I urge you to try and find in your hearts a bit of hope. For thousands of years our people have hoped. And hope for a better world is perhaps our greatest act of resilience.
Deutsche Version
Jeremy Borovitz ist Rabbiner und Chief Programming Officer bei Hillel Deutschland. Er stammt aus New Jersey, hat aber auch in Polen, der Ukraine und Israel gelebt. Er lebt mit seiner Frau, der Rabbinerin Rebecca Blady, und ihren drei Kindern in Berlin.
Als ich 17 Monate alt war, wand ich mich aus dem Schoß meiner Mutter und rief nach meinem Vater. „Da, Da“ weinte ich. Mein Vater verließ seinen Platz auf der Bima, wo er eine Kavannah im Neilah Gottesdienst an Yom Kippur gab, und hielt mich für den Rest des Gottesdienstes in seinen Armen.
Als ich 32 Jahre alt war und endlich den Bus bestieg, der uns nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle bereitgestellt wurde, schrie meine kleine 15 Monate alte Tochter voller Freude/ Erleichterung auf, als sie mich sah. „Papa“ weinte sie und ich weinte auch und dieser Moment war geprägt von Tragik und Freude.
Für mich ist es unfassbar, dass bereits fünf Jahre vergangen sind seit ich an Yom Kippur in der Synagoge in Halle stand und sich mein Leben für immer änderte. Dieser Tag ist, zum einen omnipräsent, zum anderen wie eine Vision aus einer anderen Welt. Eine Erinnerung, getrübt vom Schleier des Traumas.
Doch egal wie schwer es ist zurückzuschauen, manchmal ist der Blick nach vorne nochmal schwerer. Ich wurde von einem Rechtsextremisten angegriffen und eine rechtsextreme Partei hat in den ostdeutschen Bundesländern die Landtagswahlen entweder gewonnen oder mindestens ein Drittel der Stimmen erhalten.
Sind wir hier sicher? Und wenn die Antwort darauf „Nein“ lautet, wo sollen wir hin?
Das sind die Fragen, die ich mir vor 5 Jahren am 09. Oktober stelle und es sind Fragen, über die ich auch heute noch brüte. Ich habe zwar keine Antworten, aber ich habe Hoffnung.
Denn während manche Erinnerungen dieses Tages vernebelt sind, sehe ich andere so klar vor mir, als wären sie heute passiert. Ich erinnere mich daran, wie wir mit dem Bus zum Krankenhaus gebracht wurden, wie das Krankenhauspersonal uns begrüßt hat, in ihren Händen Spielzeuge für meine Tochter. Ich erinnere mich an die Frau, die mit ihr stundenlang spielte. Ich erinnere mich an Herrn Dr. Hendrik Liedtke, der andere daran hinderte unser Neilah Gebet zu unterbrechen und uns später Bier brachte, nachdem ich ihm versicherte, dass es Kosher sei.
Neïlah ist der Abschluss und der Höhepunkt des gemeinsamen Gebetes am Jom Kippur.
Vor einem Jahr sind meine Frau und ich nach Halle zurückgekehrt, um dort Yom Kippur zu feiern. Es war größtenteils ereignislos. Die Gebete waren schön, die Gesellschaft liebenswert. Am Ende der Neilah kam Dr. Liedtke herein – in seinen Händen einen Kasten Bier. Es ist nun seine Angewohnheit geworden, der Jüdischen Gemeinde von Halle am Ende von Yom Kippur Bier zu bringen. Und als wir zusammensaßen und unser Bier tranken, erzählte er mir, dass er nächstes Jahr wieder kommen werde, genauso wie das Jahr darauf und dass er diese Tradition so lange aufrechterhalten werde, wie es ihm möglich ist.
Heute appelliere ich an euch in euren Herzen auch etwas Hoffnung zu finden. Tausende Jahre lang hat unser Volk Hoffnung gehabt. Und die Hoffnung auf eine bessere Welt ist wahrscheinlich unser größter Akt des Widerstands.