Wenn Erinnerung zur Kulisse wird – die Schule als Spiegel unserer Gesellschaft

von Glenn Trahmann

Sie brüllten „Deutschland den Deutschen“. Sie lachten und sangen zu einem Eurodance-Hit. Und das ausgerechnet in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen in Niedersachsen. Der Vorfall ereignete sich bereits im Juli 2024 während eines Besuchs einer neunten Klasse aus Bielefeld in der Gedenkstätte. Zuerst wurden die Informationen darüber in der Samstagsausgabe der Bielefelder Neuen Westfälischen veröffentlicht.

Viele Schulen in Deutschland tragen heute den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, unter anderem auch diese Schule in Bielefeld. Und doch passieren an diesen Schulen immer wieder Vorfälle wie Dieser. Was wie eine groteske Szene aus einem düsteren Theaterstück klingt, ist Realität. War dieser Vorfall einmalig? Nein. Es ist symptomatisch, und genau das macht ihn so gefährlich.

Mich persönlich bedrückt dieser Fall besonders, weil er von einer Schule aus Nordrhein-Westfalen stammt, meinem eigenen Bundesland, in meinem direkten Umfeld. Das zeigt mir einmal mehr, dass dieses Problem kein Randphänomen ist. Es ist mitten unter uns. Es passiert da, wo wir leben.

 Deshalb muss man auch ehrlich sagen: Die Plakette „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ist gut gemeint, aber in der Praxis häufig nicht mehr als ein symbolischer Akt. „Mit Courage“ – ja, das ist ein wichtiges Ziel. Aber „ohne Rassismus“? Das ist eine Illusion. Kein Schulgebäude in Deutschland ist vollständig frei davon. Wer das Gegenteil behauptet, macht es sich zu einfach und verschleiert die Realität.

Und genau darin liegt das Problem: Man wiegt sich in Sicherheit, statt sich der Verantwortung zu stellen. Rassismus und Antisemitismus verschwinden nicht durch eine Unterschrift. Sie können jedoch durch Haltung und konsequentes Handeln gedämmt werden. Es wird immer ein Problem bleiben, mit dem wir umgehen müssen. Und genau deshalb müssen wir aktiv handeln und nicht darauf hoffen, dass es einfach verschwindet.

Die Jugendlichen sangen dabei nicht zufällig „L’amour Toujours“. Dieses Lied sorgte im Mai 2024 nach einem rassistischen Vorfall auf Sylt bundesweit für Schlagzeilen, als junge Menschen es mit dem Slogan „Deutschland den Deutschen- Ausländer raus“ grölten. Seitdem wird die Umdeutung des Songs in rechtsextremen Kreisen als Code weiterverbreitet, auch über soziale Netzwerke wie TikTok. Dass dieser Song nun in einer KZ-Gedenkstätte mit exakt dieser Botschaft laut gesungen wurde, ist kein Zufall. Es war ein gezielter Akt der Provokation und Verachtung.

Laut der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten wurde das Verhalten der Jugendlichen von Mitarbeitenden vor Ort unterbrochen. Die Lehrkräfte jedoch standen angeblich an der Kasse und haben von dem, was die Schüler brüllten, nichts mitbekommen. Komischerweise passiert es immer wieder, dass Lehrkräfte in solchen Momenten behaupten, sie hätten das nicht gehört. Dabei handelt es sich schlichtweg um bewusstes Weghören. Es ist kein neues Phänomen. Häufig wird an Schulen Hass und Hetze verbreitet – sei es auf dem Schulhof, bei Ausflügen oder in anderen Kontexten. Und immer wieder behaupten Lehrerinnen und Lehrer, nichts gehört zu haben und nicht zu wissen, was in ihren eigenen Klassen abläuft. Das ist nichts anderes als eine bequeme Ausrede. Lehrkräfte müssen eingreifen, wenn solche Parolen gebrüllt werden. 

Sie können nicht einfach ihren Schulplan abspulen und so tun, als sei das nicht ihre Verantwortung.

Die Realität sieht leider so aus: Lehrerinnen und Lehrer müssen sich viel stärker hinterfragen, was sie in solchen Momenten tun. Einerseits fehlt es an ausreichender Bildung und Haltung, andererseits braucht es dringend verpflichtende Fortbildungen. Aber das Problem ist nicht nur ein Mangel an Bildung. Oft haben Lehrkräfte sogar das nötige Wissen und schauen trotzdem bewusst weg. Sie haben Angst, sie sind unmotiviert oder wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Das ist nicht nur ein Bildungsproblem – es ist auch ein Verantwortungsproblem.

Aber Bildung und Prävention haben auch ihre Grenzen. Wenn sich solche Taten wiederholen und gerade Neuntklässler, die in diesem Alter durchaus die nötige Reife besitzen, um zu verstehen, was richtig und was falsch ist, immer wieder auf diese Weise Grenzen überschreiten, müssen Konsequenzen folgen. Wenn eine Schule sich als „Schule ohne Rassismus“ bezeichnet, muss sie diese Bezeichnung ernst nehmen. In solchen Fällen sollte es keine Ausreden mehr geben: Schulverweis – Ende. Wer sich wiederholt rassistisch oder menschenverachtend verhält, sollte nicht weiter an dieser Schule bleiben. Wer sich weigert, die Grundwerte von Respekt und Menschlichkeit zu akzeptieren, hat an dieser Schule nichts verloren. Den Schülerinnen und Schülern sollte klar gemacht werden, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat und sie nicht länger Teil der Schulgemeinschaft sein können.

Es gibt leider auch Fälle, in denen Lehrerinnen und Lehrer Ideologien mit in die Schule bringen, die in keinerlei Weise in einen pädagogischen Kontext gehören. Diese Ideologien fördern nicht nur Hass und Hetze, sie sind auch gefährlich. Solche Lehrerinnen missbrauchen ihre Position, um ideologisch verzerrtes Wissen zu vermitteln und Jugendliche mit falschen Werten zu prägen. Das ist ein noch größeres Problem und zeigt, dass wir nicht nur Fortbildungen benötigen, sondern auch klare Regeln und Verantwortung für alle Pädagoginnen und Pädagogen. Es muss sich endlich etwas ändern.

Ich selbst spreche regelmäßig an Schulen, bewusst, mit Offenheit und Klarheit. Ich erzähle von meinem Leben als Jude in Deutschland, von Anfeindungen und Ausgrenzung. Und ich erlebe immer wieder: Es wird gelacht. Nicht, weil ich Witze mache – sondern weil ich von der Realität erzähle. Weil ich Begriffe wie „Scheißjude“ nicht verschweige, weil sie mir entgegengeschleudert wurden. Und viele Lehrkräfte? Sie sagen: „Ich habe nichts gehört.“ Oder sie schauen weg. Das ist keine Ausnahme – es ist Alltag.

Mich überrascht dieser Vorfall in Bergen-Belsen deshalb leider nicht. Aber er schockiert mich. Und er macht mich wütend. Denn er zeigt, wie tief das Problem sitzt und wie wenig wir als Gesellschaft dagegen tun. Wenn Erinnerungskultur nur Projektwoche ist, Haltung nur auf Plaketten existiert und Verantwortung an der Schultür aufhört, dann haben wir versagt.

Und trotzdem mache ich weiter. Nicht, weil es leicht ist, sondern weil es notwendig ist. Ich will weiterhin mit Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern sprechen. Ich will Fortbildungen mitgestalten, angehende Lehrkräfte vorbereiten und Kollegien sensibilisieren. Denn es reicht nicht, nur auf Schülerinnen und Schüler zu zeigen. Wer wegsieht, ist Teil des Problems – ob in der Schulklasse, im Lehrerzimmer oder in der Bildungsbehörde.

Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft. Unsere Schulen spiegeln das wider. Es gibt jüdische Schülerinnen und Schüler, Kinder mit Migrationsgeschichte, unterschiedliche Religionen, Identitäten und Lebensrealitäten. Sie alle haben ein Recht auf Schutz. Egal, wer antisemitisch oder rassistisch handelt – die Konsequenz muss klar sein. Nicht aus Rache, sondern zum Schutz der Gemeinschaft.

Gerade Schulen sind ein besonderer Ort. Denn dort befinden sich junge Menschen, die noch mitten in ihrer Entwicklung stehen. Die Fragen haben, Orientierung suchen und die wir erreichen müssen. Doch genau das passiert viel zu selten. Wir holen sie nicht ab, lassen sie allein. Mit Unsicherheit, Frust und radikalen Stimmen im Netz. Und dann wundern wir uns, wenn sie Grenzen überschreiten.

Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Deshalb müssen sich alle fragen: Wo stehe ich? Was tue ich? Was kann ich tun? Es reicht nicht mehr, nur betroffen zu sein. Es braucht Verantwortung, Haltung und endlich Konsequenz.