„Und dann haben Sie ihm dafür eine reingehauen?“

Ein Bericht von Joel Ben Joseph

Der Richter schaut den Angeklagten Mustafa A. mit erhobenen Brauen an, nachdem dieser versucht hat, den Ablauf seiner Tat zu erklären. Kaum 30 Minuten sind im hoch gesicherten Saal B129 des Amtsgerichts Tiergarten verstrichen, als sich bereits eine angespannte Atmosphäre breit macht. Der Verteidiger von Mustafa A. stellt zu Beginn einen „unaufschiebbaren Antrag“, den der Richter jedoch schroff ablehnt: „Unaufschiebbare Anträge gibt es nicht.“ Auch die Schöffen reagieren irritiert, als der Verteidiger anschließend noch von ihrer vermeintlichen Befangenheit spricht. Die Stimmung im Saal wird zusätzlich aufgeheizt, als derselbe Verteidiger plötzlich 5.000 Euro in bar als Ausgleichszahlung anbietet. Shapiras Anwalt zeigt sich empört und lehnt energisch ab. Wie bereits im Vorfeld klargestellt, kommt ein Täter-Opfer-Ausgleich für den Nebenkläger nur in Betracht, wenn der Beschuldigte ein vollständiges Schuldeingeständnis abgibt – einschließlich der Anerkennung eines antisemitischen Motivs. Genau dies streitet Mustafa A. ab, und hier liegt die Kernfrage des Prozesses. Die Tat selbst ist längst gestanden. Die Frage ist: Warum wurde Lahav Shapira attackiert? War es ein vorsätzlicher Angriff aus antisemitischer Absicht oder war es „nur“ ein emotionaler Ausbruch im Affekt, ausgelöst durch eine angebliche Provokation vor der Bar?

Rückblick auf den Vorfall:
Am 2. Februar 2024 wurde der deutsch-israelische Student Lahav Shapira in Berlin-Mitte vor einer Bar geschlagen und getreten. Er erlitt schwere Frakturen im Gesicht und musste monatelang behandelt werden. Der Angeklagte und damalige Kommilitone, Mustafa A., gesteht die Tat, bestreitet jedoch das Vorliegen eines antisemitischen Motivs. Politisch gab es zuvor Rufe nach seiner Exmatrikulation, doch die Hochschulgesetzgebung ließ das nicht zu. Mustafa A. exmatrikulierte sich schließlich selbst und zog mit seiner neuen Partnerin, die er erst nach dem Vorfall kennenlernte, nach München.

Zurück zum aktuellen Geschehen des Strafprozesses im Amtsgericht Tiergarten in Berlin: Strengere Sicherheitsvorkehrungen als bei EL AL, Taschenkontrollen, alle Sachen müssen in Schließfächern bleiben – Bleistifte und Papier bekomme ich dann erst im Saal.

Opfer oder Provokateur?

Der Verteidiger versucht Lahav Shapira im Gericht als einen Aktivisten darzustellen, der an der Universität bewusst provokante Schritte unternommen habe. So soll Shapira in Uni-Chatgruppen Demonstrationsaufrufe gelöscht und Nutzerinnen und Nutzer, die derartige Inhalte regelmäßig posteten, blockiert haben. Außerdem habe er bei einer Hörsaalbesetzung in der FU Plakate heruntergerissen, die nach Mustafas Sicht legitime Proteste gegen „Landraub in Palästina“ beworben hätten.

Mustafa A. führt aus, dass er Shapira an jenem Abend nur auf diese Vorfälle ansprechen wollte. Er wollte ihm nur erklären, dass er sein Verhalten nicht in Ordnung fände. Erst nachdem Shapira ihm angeblich provokant erwidert hätte: „Was fällt dir ein, mich anzusprechen? Was willst du von meinen Eiern?“ hätte sich der erfahrene Kickbox-Sportler Mustafa A. eben nicht anders zu helfen gewusst, als ihm einmal präzise ins Gesicht zu schlagen, den zweiten Haken durch Shapiras Ausweichmanöver zu verfehlen, einen Dritten Treffer zu landen und schließlich als Shapira schon halb zu Boden gefallen war, ihm einen Tritt ins Gesicht zu geben, der laut einer Zeugin ein hörbares “dumpfes Knirschen” verursachte.

Ob es jene Äußerung über die „Eier“ tatsächlich gab, ist im Prozess weiter umstritten. Shapira selbst bleibt bei seiner Befragung gefasst und bestreitet fest, eine derartige Aussage gemacht zu haben. Er schildert vielmehr, dass Mustafa A. ihm gegenüber wegen der abgerissenen Plakate verärgert gewesen sei und sofort zuschlug. Auch seine Begleiterin an jenem Abend, die als Zeugin geladen wurde, verneint einen möglichen Streit. Trotzdem versucht der Verteidiger durch weitere Nachfragen, einen Beleg dafür zu finden, dass Shapira zumindest an einem Streit zwischen ihm und Mustafa A. mitgewirkt habe. Auf diese Nachfragen reagiert der Richter mehrfach mit Ermahnung zur Sachlichkeit und präziseren Formulierung.

Aussagen und Widersprüche

Bei einem Punkt stimmen jedoch beide Seiten überein: Mustafa A. hat Shapira zweimal ins Gesicht geschlagen und im Fallen nochmals getreten. Während Shapira davon überzeugt ist, dass sein Jüdischsein und sein Engagement gegen Antisemitismus der wahre Grund für diese Gewalt war. Dafür verweist er auf vorige Konfliktsituationen bei den Besetzungen und Protestcamps. Danach gab es auch sich darauf beziehende, hetzende Flugblätter und Posts gegen seine Person. Diese wurden in Uni-Gruppen und auf Social Media geteilt. Darauf ist sein Gesicht zu sehen und die Aussage, dass Lahav Shapira “dieser Zionist, der alles zerstört” sei. Trotzdem beharrt Mustafa A. darauf, er habe nicht aus einem antisemitischen Motiv gehandelt. Dementsprechend erlaubt die Beweislage keine direkten Verbindungen zwischen Mustafa A. und der Hetze gegen Shapira. Auch die weiteren Zeugen zeichnen ein gemischtes Bild:

Eine Polizistin, die Mustafas Wohnung durchsuchte, fand Karten und Schmuckstücke, die durch die Darstellung des Gebiets als vollständig palästinensisch ohne die israelischen Grenzen, das Existenzrecht Israels vermutlich leugnen. Ob das ein Motiv des Antisemitismus beweise, ist aber juristisch nicht eindeutig.

Eine zweite Polizistin wertete Mustafas Handy aus und stieß dabei auf ein Snapchat-Video, in dem als Untertitel geschrieben steht: „Musti hat den judenhurensohn totgeschlagen.“ Wer das Video gefilmt und wem gesendet hat, ist unklar. Nur, dass es eben auf Mustafas Handy im Speicher heruntergeladen war.

Ein anderer Zeuge der Tat selbst, ein junger Mann aus Offenbach, der am Abend der Tat nur wenige Meter vom Geschehen vor einem Dönerladen saß, berichtet mit einer höchst heroischen Selbstdarstellung, dass er einen Stuhl gegriffen habe, um dazwischenzugehen und die Situation vor der Bar zu beenden. Er kritisiert noch im gleichen Atemzug auch den Prozess und sagt, dieser würde nur genutzt werden, um ein Exempel zu statuieren. Der Richter weist ihn sofort zurück: “Ihre Meinung interessiert hier nicht, bleiben Sie bei der Sache.” Nachdem der Zeuge dann auch von den gleichen Schlägen und Tritten berichtet, aber keine Aussagen zu möglichen Provokationen oder einem Streit geben kann, will der Richter dann doch wissen, warum der Zeuge meine, es wäre ein politischer Prozess. Daraufhin behauptet der Offenbacher, die Antisemitismus-Resolution des Bundestags sei nur ein Instrument im Dienste des Entzugs von Grundrechten. Denn dieser Fall ist in der Antisemitismus-Resolution ein zentrales Beispiel für antisemitische Gewalt, was laut dem Zeugen falsch sei. Er würde daran zweifeln, dass es ein antisemitisches Motiv gegeben hätte. 

Der Anwalt von Lahav Shapira ist sich bei dem antisemitischen Motiv aber sicher und hat einen Antisemitismusforscher als Begutachtenden zur nächsten Tagung beantragt, um die politische Dimension der Plakate und Haltung des Beschuldigten zu verdeutlichen. Dieser dagegen beharrt darauf, er habe keine antisemitische Haltung. Er fühle sich lediglich ungerecht behandelt wegen der abgerissenen Plakate und wegen Lahavs “Umgang” mit problematischen Inhalten in Studi-Chatgruppen.

Doch eines lässt sich kaum leugnen: Die auf Social Media kursierenden Diffamierungen und Drohungen stärken die Vermutung, dass Shapira hier nicht zufällig zum Opfer wurde. Dabei stellt sich mir die Frage, ob Mustafa A. diese Gewalt gegenüber Shapira auch dann hervorgebracht hätte, wenn dieser ein nichtjüdischer Student gewesen wäre, selbst wenn er in denselben vorherigen Situationen mit den Plakaten und Chatgruppen involviert gewesen wäre und nur israelsolidarisch mit einem anderen Glauben gehandelt hätte.

Wie zumindest das Gericht diese Frage nach dem Motiv des Täters beantworten wird, lässt sich erst am 17. April berichten. Am Donnerstag dieser Woche wird das Gericht erneut im Amtsgericht Tiergarten mit weiteren Zeugen tagen und hoffentlich zu einem Urteil kommen.