von Evelyn Deller
In Eklats um öffentliche Themen geht es häufig darum, wer dazu befugt ist, im Namen der Jüdinnen und Juden Deutschlands reden zu dürfen: Die, die hier aufgewachsen sind? Die, die Vorfahren durch deutsche Täterschaft verloren haben? Oder die, die einfach reden wollen? Das Thema ist komplex, und je nach den eigenen Vorannahmen und der persönlichen Auseinandersetzung damit wird jede*r Leser*in zu anderen Schlussfolgerungen gelangen als ich. Vielleicht denke ich übermorgen schon anders darüber – und ganz sicher werde ich in einigen Jahren eine andere Haltung zur „Causa Boehm“ haben, weil ich bis dahin neue Erfahrungen gemacht, anderes gelesen und weiter darüber nachgedacht haben werde. Doch eines tue ich schon jetzt, was ich auch später tun würde: Wohlwollend lesen, verstehen wollen und möglichst vorurteilsfrei an die im Folgenden beschriebene Kontroverse rangehen.
Was passiert ist
Am 06. April wurde der Befreiung der Gefangenen des KZs Buchenwald und Mittelbau-Dora gedacht. Dieser Termin war besonders wichtig, denn dieses Jahr ist der 80. Jahrestag – die Befreiung selbst ereignete sich am 11. April 1945 durch die 3. US-Armee. Zehn Überlebende konnten dieser Veranstaltung beiwohnen. Neben diesen vom Ereignis selbst betroffenen Gästen gab es Einladungen an verschiedene Personen, zu denen ich später kommen werde, anlässlich des Gedenkakts im Congress Centrum Weimarhalle und der Kranzniederlegung in der Gedenkstätte Buchenwald. Zum Programm gehörte neben musikalischen Akten, Bilderstrecken und Gedichtrezitation auch eine umstrittene Gedenkrede. Und obendrauf, auf all die Diskussionen rund um den umstrittenen eingeladenen Gast, kam es auch noch während der Gedenkfeier zu einem Eklat rund um die Kranzniederlegung – und Auslöser war ein einziges Wort, getätigt von einer Jugendlichen. – Dazu komme ich hier nicht.
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Wer reden durfte, wer eingeladen war, warum wer eingeladen war
Wer reden durfte, lässt sich anhand der Übersicht auf der Buchenwald-Website ablesen.[1] Und wer eingeladen war, steht in etlichen Artikeln, die die letzten Tage Social Media und Zeitungsportale überschwemmten: Denn es ging am 6. April 2025 weniger um diejenigen, die diesen Tag erlebt, bessergesagt überlebt haben, sondern um den einen Menschen, der diesen Tag mit seinen Worten nicht begleiten durfte: Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm. Eingeladen hatte ihn der Leiter der Gedenkstätten Jens-Christian Wagner. Wenn ich seinen Lebenslauf anschaue, dann wird auch klar, wieso gerade er der Leiter ist: Weil Wagner sein ganzes Leben und seine gesamte Forschung u. A. dem KZ Mittelbau-Dora widmet, selbst seine Promotion 1999 beschäftigte sich damit. Jeder Abschnitt seiner Vita sieht wie eine Stufe aus, mit der er sich den Weg zur Position pflasterte, auf der er sich jetzt befindet.[2] Dementsprechend attestiere ich ihm ein Bewusstsein dafür, wen er einlädt und warum. Warum die Einladung? „Man habe Boehm eingeladen, weil man sich von ihm ‚auf hohem Reflexionsniveau ethisch fundierte Gedanken zum Verhältnis von Geschichte und Erinnerung, insbesondere zum Wert der universellen Menschenrechte und ihrer Bedeutung mit Blick auf die NS-Verbrechen‘ versprochen habe.“[3] Und die Ausladung? „Gegenüber dem SPIEGEL verwies er auf die anreisenden Überlebenden, er wolle seine Ehrengäste vor einem Konflikt schützen, mit dem sie nichts zu tun hätten.“[4] – Und dieser Konflikt bahnte sich durch die Kritik an, die Wagner von der Israelischen Botschafter in Berlin bekam. Es war nicht das erste Mal, dass öffentlichkeitswirksam noch vor Veranstaltungsbeginn Kritik an Boehm geäußert wurde. Denn im Mai 2024 gab es anlässlich Boehms angefragter Rede für die Wiener Festwochen bereits Kritik von der Israelischen Kultusgemeinde, worauf sich Sponsoren und Kooperationspartner*innen zurückzogen.[5] Dieses Mal hat vor allem der israelische Botschafter Ron Prosor die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ob er derjenige war, der den teils zynisch formulierten Beitrag auf „X“ getweetet hat, ist mir nicht bekannt, doch ich möchte zitieren, was geschrieben wurde, um zu zeigen, auf welche Weise Boehm dargestellt wird: „[…] Omri Boehm – was für eine inspirierende Wahl! Ihn als Redner zu einer Holocaust-Gedenkveranstaltung in Buchenwald einzuladen, ist so, als würde man Baschar al-Assad einladen, einen Vortrag über Menschenrechte zu halten. […]“[6] und „[…] Unter dem Deckmantel der Wissenschaft versucht Boehm, das Gedenken an den Holocaust mit seinem Diskurs über universelle Werte zu verwässern und damit seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben. […]“[7] Meiner Meinung nach ist der Vergleich eines Philosophen, dessen Forschung an Humanismus und Universalismus knüpft, mit einem terrorstiftenden, antisemitischen, rassistischen und skrupellosen Diktator, wirklich unverhältnismäßig. Und ich denke vor allen Dingen, dass, während Assad keine Menschenrechte einhält und deshalb in Bezug darauf nur lügt[8] – Omri Boehm gute Denkanstöße für die Zukunft als Nachkomme von NS-Überlebenden mitteilen könnte. So zumindest verstehe ich seine Philosophie: In erster Linie eben nicht destruktiv, sondern vor allem hoffnungsvoll. Meine Kritik ist eher die utopische Form[9], die seine philosophischen Ideen annehmen, wenn er versucht, daraus praktische Ableitungen hervorzubringen. Denn das Scheitern an der Realität bringt ihn nicht dazu, seine Theorien zu ändern, sondern im Gegenteil den Ist-Zustand unter der Brille einer fehlgeschlagenen Lösung zu betrachten. Dabei kritisiert er vor allen Dingen jedoch das Land, in dem er geboren wurde[10] – und das er deshalb am besten kennt. Nicht jedoch das Land, mit dem sich seine Heimat seit 75 Jahren im Konflikt befindet. Womöglich ist dies für ihn die einzige Möglichkeit, Kritik üben zu können, denn offensichtlich hat er ja den Glauben daran, dass die Republik Haifa eine realistische Zukunftsvision sein könnte. In dieser Idee aus seinem Buch Israel – eine Utopie geht es um die Konzeption eines binationalen Staates, dessen Staatsgebiet die heutigen israelischen und palästinensischen Autonomiegebiete umfasst; also statt einer Zweistaatenlösung soll es nach ihm eine binationale Föderation geben. Und eigentlich gibt es auch wichtige Grundsätze zwischen Omri Boehm und Ron Prosor, von denen ich denke, dass sie sich auf diese einigen können: Böhm kritisiert die „linke[n] Apologeten des antisemitischen Hamas-Terrors“[11] und „die ‚postkolonial‘ begründete Argumentation, Humanismus sei eine westliche Ideologie, die sich gegen Nichtweiße richte. [Außerdem] plädierte er dafür, den Begriff des Genozids korrekt anzuwenden: ‚Benutzt Kategorien des Völkerrechts als juristische Begriffe, und zwar in scharfer Abgrenzung von einer moralischen und ideologischen Verwendung.‘“[12]
Gerade weil Boehm Lehren aus dem Holocaust zieht, gerade weil er den Zionismus anerkennt, versteht er, dass die gegenwärtige Situation im Nahen Osten keine lösungsorientierte ist. Gerade deshalb glaubt er an die Macht der Kritik, mit der ein Bessermachen möglich ist, und gerade deshalb lässt er sie an den Menschen und dem Land aus, deren Ideologie er selbst versteht. Er beruft sich dabei bspw. auf den Wissenschaftshistoriker und Shoah-Überlebenden Yeduda Elkana, der tatsächlich „die These aufstellte, dass das […] Gedenken an den Holocaust die größte Bedrohung für die Existenz Israels sei“[13] und stellt diese anderen Thesen gegenüber. Boehm schreibt über das Vergessen und das Erinnern, dabei finde ich die These aber am spannendsten – und diese kann ich nicht unabhängig prüfen, weil ich nicht israelisch sozialisiert bin – dass ein Narrativ existiert, demnach die jüdischen Opfer der Shoah ein notwendiges Übel für die daraus resultierende Geburt des jüdischen Staates waren.[14] Nachvollziehen kann ich diesen Gedanken jedoch an mehreren Stellen. Im Kern verstehe ich, dass es darum geht, dass ein Staat, dessen Fundament aus einem kollektiven Trauma besteht, keine gute Prognose haben kann, jedoch vor allen Dingen nicht verhandlungsbereit ist, wenn seine Feinde immerzu mit den Nachfahren Hitlers assoziiert werden.[15] Außerdem – und das ist wohl mit Boehms Kritik an Yad Vashem gemeint – soll Israel mit der Praxis des Erinnerns ein Ende finden, welches den Sinn und Zweck hat, seinen Bürger*innen eine Betroffenheit der Shoah einzureden, also auch den Juden und Jüdinnen, die aus anderen Gründen als der Shoah nach Israel ausgewandert sind. Denn daraus entstünde kein politisches, sondern messianisch-metaphysisches Bewusstsein über die Staatsgründung. Heißt: Der Staat sei nicht da, weil es sich historisch so ergeben hat, sondern, weil es eine von G-tt beschlossene Prophezeiung dazu gab. Israel wäre somit also metaphysische (g-ttliche) Erfüllung und nicht bloß ein normaler Staat, wie jeder andere. So sehen sich die Bürger*innen als Mittel zum Zweck: Sie sind die Mittel, die die Prophezeiung der israelischen Staatsgründung und Existenzsicherung umsetzen und erkämpfen müssen. Und als Motivation dazu dient das ständige Mahnen, das Erinnern. So verstehe ich Omri Boehm.
An seiner Kritik innerhalb der israelischen Erinnerungskultur, vor allem aber an der verspäteten Anerkennung der Gräuel der Shoah, ist definitiv etwas dran. Dies lässt sich bspw. daran festmachen, wie die nach dem zweiten Weltkrieg ins Mandatsgebiet Palästina geflohenen überlebenden Jüdinnen und Juden von der jüdischen Bevölkerung vor Ort betrachtet wurden. Sie passten nicht in das neue Selbstbild, ihnen wurde gar vorgeworfen, keinen Widerstand geleistet und sich stattdessen als „Schafe zur Schlachtbank“ geführt haben zu lassen.[16] Doch diese Sichtweise änderte sich nach dem öffentlichen Eichmann-Prozess 1961, als die Überlebenden ihr eigenes Schicksal in die Hand genommen und sich einem ihrer Peiniger gestellt haben. Dies führte auch nicht nur innerhalb Israels, sondern weltweit zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit der Shoah.
Ob Boehms zunächst nachvollziehbare Haltung jedoch ausschließlich für Israel gilt, und nicht gerade für jede Nation, würde ich als Frage in den Raum stellen. Nicht jede Nation hat einen Genozid sowie uralte Diskriminierungsform als Gründungs“mythos“, doch jede Nation hat eine Geschichte, die über das Bildungssystem gelehrt wird. Vor allen Fundamentalisten sehen sich als Vollstrecker der (nationalen, religiösen, politischen, etc.) Geschichte – und wenn ich Hannah Arendts Analyse totalitärer Elemente folge, dann verstehe ich umso besser Boehms Intention: Er will vor allen Dingen vor der Instrumentalisierung rechtsextremer, faschistoider Kräfte warnen, die Geschichte nutzen, um eine rassistische, menschenfeindliche Politik zu begründen. Dafür zählt er bspw. auf, welche Politiker und Persönlichkeiten das Yad Vashem besucht haben, und wie sie diese Gedenkstätte als „Waschmaschine“[17] für eine Politik nutzten, vor der ebendiese Gedenkstätte warnen will. Darin lese ich keine Kritik an der Institution selbst, sondern die moralische Frage, wer es wert ist, auf einer Gästeliste zu stehen: Wer ist unterrichtbar und wer tut bloß so, als würde er sich für das dunkelste Kapitel Europas interessieren? Wenn das Yad Vashem Gäste duldet, die nicht aus der Geschichte gelernt haben, und als Institution in einem Staat besteht, welcher selbst rechtsextreme Elemente in seiner Regierung duldet[18], dann funktioniert Erinnern als Motor für einen gerechten Staat nicht mehr. Es braucht eine andere Lehrform, die Demokratie in Israel erhält und die sich nicht vom angeblichen Wissen um die Vergangenheit, um die Geschichte der Leiden des jüdischen Volkes, blenden lässt. Anscheinend bringt nämlich dieses Wissen um das Leid unserer Vorfahren nichts, wenn es darum geht, ein Land aufzubauen, welches frei von rechtsextremen Elementen, Korruption und Krieg sein soll – das soll an den Museumsgästen bewiesen werden, wie bspw. Victor Orbán und Matteo Salvini.[19] Gerade diese Identifikation mit dem Opfer führe nämlich dazu, dass die eigene Schuld verwischt werden würde, und diese Schuld, die der israelische Staat trägt, liegt in der gewaltsamen Behandlung der Palästinenser*innen – so Boehm, der sich in diesem Punkt wieder auf Yehuda Elkana bezieht. Würde der Staat also nicht nur das Leid unterrichten, sondern auch die Schuld eingestehen, die es bräuchte, um ein mehrheitlich jüdisch-bevölkertes Israel aufbauen zu können, dann würde der Staat zu friedlichen Lösungen kommen können, wenn es um das Zusammenleben mit den Palästinenser*innen geht – so die Konsequenz. Anstatt ihn, wie die israelische Botschaft es via „X“ tat, auf übertriebene Weise zu diffamieren, würde ich mir wünschen, gerade mit provokativen Denker*innen wie ihm ein Gespräch zu führen (und dasselbe lässt sich natürlich auf den Eva Illouz Eklat beziehen[20]). Von einem Gespräch auf Augenhöhe können politische Instanzen nur profitieren – gerade in einem so gespaltenen Land wie derzeit Israel.
Das alles soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich viele Thesen Omri Boehms selbst für problematisch erachte, ich habe in diesem Kontext jedoch versucht, nachzuzeichnen, welche konstruktiven Forderungen in seinem o. g. Buch stecken. Ich finde es sinnvoll, wohlwollend zu lesen und nachzuvollziehen, was er schreibt. Doch die Realität Israels ist eben nicht schier philosophisch begreifbar. Mir gefällt, dass Omri Boehm jüdische Souveränität in Form des Zionismus nicht negiert. Im Gegenteil er sucht nach einer möglichst umsetzbaren und friedlichen Lösung, um jüdisches Leben im Nahen Osten, Seite an Seite mit arabischen Nachbarn, zu garantieren. Er sagt selbst, dass er das Land liebt. Doch ich habe das Gefühl, dass er auf seiner Suche nach Problemen des israelischen Staates selbst zu sehr ins Metaphysische abgerutscht ist und somit die Bedrohungslage und Prekarität Israels nicht mehr greifen kann. Er macht immer wieder sehr konkrete, realitätsbezogene Beispiele, geht aber dann ins Philosophieren über. Außerdem ist sein Fokus auf den Schuldspruch an Israel extrem triggernd hinsichtlich der Tatsache, dass die gesamte Bevölkerung in Kollektivhaft für das Leid der Palästinenser*innen genommen wird. Die sog. Palästinenserfrage ist und sollte nicht allein bei Israel liegen – dahinter stecken auch ganz andere Dynamiken. Und genau dieser Fokus der Schuld, die auf dem gesamten Staat liegen soll, ermöglicht den heftigen Anstieg an antisemitischen Straftaten der letzten eineinhalb Jahre. Weil wir als Individuum für ein Kollektiv an Schuldigen wahrgenommen werden – das hat Ähnlichkeiten zu Schuldabwehrantisemitismus[21]. So bildet sich ein Bild, das zurzeit in vielen Köpfen schwirrt: Kein anderer Staat ist so wie Israel, und erst recht nicht ethnonationalistisch. Dabei muss gerade dieser Vorwurf gegenüber Israel endlich an Gewicht verlieren, da so die Probleme und Umgänge anderer Staaten mit Ethnonationalismus unsichtbar werden. Bspw. in Bosnien-Herzegowina[22] – ein Staat, dessen Geschichte auch auf einem Genozid basiert, das von rechtsextremen Politikern instabilisiert wird und prekäre territoriale Grenzen hat. Doch nur Israel wird mystifiziert, da so getan wird, als würde kein anderer Staat so handeln, und gleichzeitig so böse sein, wie der einzig jüdische Staat. Es wird auch häufig gesagt, dass jüdischer Ethnonationalismus problematisch sei, (pan)arabischer wird jedoch nicht erwähnt. Ich finde: Wenn schon, dann sollte auch eine Kritik universell sein.[23]
Während ich nun ausgeführt habe, wie der Ausgeladene, denkt, so habe ich bisher kein einziges Wort zur Ideologie (des Eingeladenen) Mario Voigts und (des kurzfristig eingeladenen Ersatzes) Christian Wulffs verloren. Deshalb gebe ich auch dazu gerne eine Übersicht.
Mario Voigt
Er schreibt auf seiner Seite, begleitet von stereotypisch anmutenden Politikerwerbefotos, vor allem in der Nutzung des Passivs. Doch dieser Satz steht im Aktiv: „Mein Großvater wurde 1953 von den Kommunisten und Sowjets zwangsweise aus seiner Heimat im Thüringer Grenzgebiet ausgesiedelt – nur weil er als Christ politisch nicht in ihr schiefes Bild passte. Das hat mich geprägt.“[24] Interessant ist meiner Meinung nach, dass er die widerständigen christlichen Werte seiner Familie andeuten möchte, jedoch nicht direkt 10 Jahre früher nachschaut, um zu erwähnen, wie bspw. der Vater seines Großvaters geprägt wurde. Wir Juden und Jüdinnen arbeiten meistens die Geschichte unserer Familie auf – oder wollen zumindest wissen, welches Regime sie überlebt haben: Das Deutsche, das Sowjetische, das Irakische, das Jemenitische? Oder vielleicht auch ein ganz anderes? Wir wissen meist, dass die Tatsache, dass wir leben, mit einer Überlebens- und Fluchtgeschichte zu tun hat. Wir können unsere Wurzeln nicht vergessen, deshalb feiern wir ja auch jährlich unsere Überlebenskämpfe, weil wir uns mit der Jahrtausendalten Geschichte des Judentums identifizieren – sie wiederholt sich auf unterschiedliche Weisen immer wieder. Ich würde mir deshalb gerade von den Deutschen, die auch noch auf Gedenkfeiern einer KZ-Befreiung reden dürfen, wünschen, dass sie auch in Erfahrung bringen, welche Kontinuität sich in ihrer Biografie finden mag. Und wenn es keine gibt, wenn sie davon nichts wissen, dann können sie auch dazu stehen. Diese Geschichte jedoch auszulassen ist kein lösungswerter Ansatz, wenn man in einer Gedenkrede über die Kraft der Erinnerung philosophieren will. Fangt nicht erst ab 1946 mit dem Erinnern an, sondern ab 1933. Vielleicht passt dieser Vorschlag nicht zur Vision Mario Voigts, denn im nächsten Abschnitt macht er klar: Es geht um die Zukunft! Ich finde nichts, was ihn dazu qualifiziert, auf der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora zu sprechen. Der einzige Grund dafür ist sein politisches Amt als Thüringens Ministerpräsident. Teile seiner Rede gingen um die Themen Erinnern, Vergangenheit, Haltung. Kurzgesagt: Wir erinnern, um Vergangenes auf die Zukunft anzuwenden und unsere Haltung zu beeinflussen. „Gegen das Schweigen. Gegen den reflexartigen Impuls, die Vergangenheit zu relativieren, um die Gegenwart zu entlasten. Wir verschließen nicht die Augen.“[25] Außerdem betont Voigt, dass Hochkultur (in Bezug auf die Stadt Weimar) nicht immun mache gegen Barbarei.[26] – Herr Voigt, ich bitte Sie, dann fangen Sie selbst auch mit Erinnern an. Und bitte halten Sie gerade deshalb auch Gespräche mit ihrer eigenen Partei zu diesem Thema: Denn wir werden nicht vergessen, welche Pläne der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz jüngst mit Stimmen der AfD umsetzen wollte.
Christian Wulff
In einem Artikel vom April 2024 geht es darum, dass die CDU für ihren Grundsatzprogrammentwurf einen Passus formuliert, der von muslimischen Menschen kritisiert wurde.[27] Es geht darum, zu erklären, ob der berühmte Ausspruch des damaligen Bundespräsidenten Christian Wullfs von 2010, nämlich „der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, heute noch so gilt. Es dürfte, meiner Meinung nach, klar sein, dass demokratische Parteien keine demokratiefeindlichen Ideologien akzeptieren, egal, ob religiöse, politische oder sonstige. Deshalb sollte es, finde ich, auch redundant sein, den Islam in einem Grundsatzprogramm gesondert zu erwähnen und das Risiko einer weiteren Stigmatisierung muslimischer Menschen zu erhöhen. Friedrich Merz verließ, kurz nachdem er vorschlug, den Passus zu verändern, die Kommission, und das auch noch ohne Formulierungsvorschlag. Deshalb überließ er den Hinterbliebenen die Streitfrage. Einer von ihnen war Mario Voigt, denn er ist Vizevorsitzender der Grundsatzprogrammkommission. Statt das o. g. Zitat Wulffs einzupflegen, einigten sie sich auf „»Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.«“
In einem anderen Artikel wird Wulffs Haltung zur aktuellen Entwicklung der CDU deutlich: Er kritisiert, dass sich die CDU mit den falschen Themen beschäftigt hat (Migration), und deshalb Stimmen an die Linken und AfD verloren hat, die jeweils mehr über Wirtschaft und Arbeit geredet haben.[28] Und diese Kritik zieht sich auch durch bis zu seiner Rede auf der Gedenkfeier. Wulff macht aufmerksam auf die Gefahr von rechts: Dem Erstarken des Rechtspopulismus soll Einhalt geboten werden.[29] Deshalb findet er klare Worte gegen die AfD und warnt vor einer Zusammenarbeit und Normalisierung. Interessanterweise äußert er sich auch zu Omri Boehm, über den er nur gute und verständnisvolle Worte verliert.[30]
Ich finde jedoch auch bei Christian Wulff keine Eigenschaft, die ihn dazu qualifiziert, den Platz Omri Boehms einzunehmen, und anstelle seiner eine Rede zu halten. Weder ist er familiär von der Shoah betroffen, noch ist er in Institutionen aktiv, die sich mit NS-Geschichte auseinandersetzen oder hat einen arbeits- oder forschungsbezogenen Schwerpunkt. Ich habe mich eingangs gefragt, ob Betroffenheit, Identität, Expertise oder etwas Anderes Menschen dazu befugt, an historisch wichtigen Terminen Reden zu halten und von wichtigen Institutionen eingeladen zu werden. Die Antwort ist in diesem Fall: Nichts von allem Genannten befugt jemanden zum Reden. Im Falle Wullfs wie Voigts erklärt sich die Einladung zur Gedenkfeier mit ihrem politischen Amt. Aber eine Sache kommt noch hinzu: Die Redner*innen dürfen offenkundig nicht kritisch durch die Repräsentanten des israelischen Staates beäugt werden – denn dann kommt es, siehe Ron Prosor, zu einem Hagel an Kritik. Und dies löst wiederum Druck auf Veranstalter*innen aus.
Reaktionen auf „Israels Kritik“ und Folgen
Der Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner, der gleichzeitig für die Gedenkfeier verantwortlich war, kritisiert die Einflussnahme der israelischen Regierung, „[d]as sei das Schlimmste, was er in den vergangenen 25 Jahren erlebt habe […].“[31] Und die Bundesregierung rügt den Umstand, dass die israelische Regierung sich in die Durchführung der Gedenkfeier eingemischt hat. Anders bewertet es der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen Reinhard Schramm, der erklärt, dass er gegen eine Rede sei, die versuchen würde, eine kritische Meinung über die Zukunft Israels als Schwerpunkt zu setzen. Dies ist in meinen Augen jedoch eine haltlose Unterstellung, denn die Rede Omri Boehms, die später in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde (s. u.), setzt einen ganz anderen Schwerpunkt. Außerdem störe ich mich sehr an einer Stelle, wo antimuslimischer Rassismus reproduziert wird, indem Schramm wortwörtlich auf „muslimische Antisemiten“[32] referiert, an denen das „Nie wieder!“ scheitern würde. Die Annahme, dass der Antisemitismus in Deutschland durch muslimische Menschen importiert worden sei, ist meiner Meinung nach geschichtsrevisionistisch und in letzter Konsequenz rassistisch.[33] Der Antisemitismus war schon hier, ehe Muslim*innen ihn hierherbringen hätten können. Weltweit laufen nicht nur muslimische Antisemit*innen rum, sondern Menschen jedes politischen Spektrums, jeder Nation und jeder Religion. Antisemitismus nur bei einem Schlag von Menschen zu verorten, verzerrt das heterogene Erscheinungsbild des Antisemitismus, das sich jüngst durch Verschwörungsmythen um Covid-19 in der deutsch-deutschen Gesellschaft offenbarte.[34]Auch der Hauptverantwortlichen für die Ausladung Omri Boehms, nämlich der israelische Botschafter Ron Prosor, greift den Artikel Schramms auf, um seine eigene Meinung zu bekräftigen. Während er Wagner vorwirft, sich „aus Feigheit“[35] hinter den Shoah-Überlebenden zu verstecken, schickt er selbst in seiner Argumentation ebenjene vor, um in ihrem Namen zu entscheiden, was für sie das Beste sei. Auch er unterstellt Boehm eine bestimmte Absicht; im Vergleich zu Schramm geht es nicht um eine falsche Schwerpunktsetzung in der Rede, sondern um eine böse Intention, nämlich, dass Boehm die Arbeit des Überlebenden Naftali Fürsts für den Aufbau des Staates Israel und die Bildungsarbeit im Yad Vashem „demontieren und lächerlich [machen]“[36] wolle. Aber was steckt denn überhaupt wirklich in Boehms Rede?
Zusammenfassung von Omri Boehms Rede [37] [die er nicht gehalten, nur nach Rücknahme der Einladung veröffentlicht hat]
Neben Philosophen wie Kant und jüdische Traditionen geht es vor allem um die Unterschiede zwischen Erinnern, Vergessen und die daraus resultierenden moralischen Pflichten. Die Frage ist, wie man der Vergangenheit der Shoah gerecht wird – und die Antwort liegt nicht in Gerechtigkeit, sondern in Frieden. Unser Handeln muss also, abgeleitet von Lehren aus der Vergangenheit, mit dem Bestreben für Frieden, zukunftsgewandt sein. Und die Lehren aus der Shoah lassen sich auf die Kant’schen Ideale Menschenwürde sowie Frieden runterbrechen. Unsere Verpflichtung heißt „Nie wieder“, und dies gilt nicht nur für Juden und Jüdinnen, sondern es muss universelle Gültigkeit haben. Da sich die Schrecken von Buchenwald auch heute wiederholen könnten, und da Antisemitismus immer noch nicht ausgestorben ist, müssen wir anerkennen, dass ein erneuter Ausrottungsversuch der jüdischen Bevölkerung immer noch möglich ist. Nur die internationale Gemeinschaft kann wirklich dem „Nie wieder“ gerecht werden, wenn sie sich dazu verpflichtet, unbegrenzte Kriege vollständig auszuschließen. Bei „Nie wieder“ kann man an Massaker vom 07.10. oder an Hunger und Zerstörung in Gaza denken, aber Holocaustvergleiche sind irreführend. Doch es gibt hier auch „ein Körnchen Wahrheit“: 1. Die Entmenschlichung beider Gesellschaften konnte jedes Mal nicht verhindert werden, 2. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft, die entweder selektiv oder gar nicht reagierte, offenbart eine Spaltung, und so wird eine Bereitschaft zu Verbrechen gerechtfertigt, statt Möglichkeiten für Frieden zu stellen. Das Besondere am 80. Jahrestag: Wir haben eine neue Weltordnung, da die USA und Russland von Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht abrücken und die EU sich aufrüsten muss. Rechtspopulisten gewinnen an Zuspruch und das „nicht unbedingt deswegen, weil sie ihre faschistischen und antisemitischen Wurzeln verleugnen. Brandgefährlich sind sie vor allem, weil sie behaupten, dass sie diejenigen seien, die wirklich die Verantwortung für die Vergangenheit übernähmen, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie Rechtsstaatlichkeit, Völkerrecht und die europäische Aufklärung verachten.“[38] Wir müssen vor diesen Leuten warnen und selbst zur Alternative werden. Fazit: Erinnern reicht nicht, wir dürfen nicht vergessen, nur dann können wir die gewonnenen Ideale der Menschenwürde und des Friedens schützen.
War das jetzt so schlimm?
Eine Meinung, die ich neben meiner stehenlassen möchte, ist die eines Instagramnutzers, der mit Boehms Rede härter (und polemischer) ins Gericht ging als ich – dafür jedoch sehr pointiert: „Bisschen Propheten-Geschwurbel (um zu zeigen, dass man hier als Jude spricht), bisschen Philosophen-Namedropping (um zu zeigen, dass man was gelesen hat), konstante Entpolitisierung von Geschichte und Gegenwart (besonders der Antisemitismus, der so richtig nur im Zusammenhang mit den Nazis erwähnt wird), ein Feuerwerk an pseudokritischen philosophischen Fragen, [und] ein paar Seitenhiebe gegen den jüdischen Partikularismus (wer sonst soll den Universalismus bedrohen?)“. Sein Fazit: „[…] Es ist eine formelhafte Beschwörung des Immergleichen, bei denen Leute sich um die Ausrichtung ihrer nichtssagenden Aussagen streiten, während das, was da eigentlich besprochen werden sollte und das was ‚nie wieder‘ sein soll – nämlich der Nationalsozialismus und sein völkisch-antisemitischer Vernichtungskrieg – weitestgehend unverstanden bleibt. […]“ Es ist also so: Hätte Omri Boehm geredet, dann hätte sich nichts geändert. Nur ein weiterer Mensch hätte etwas zu sagen gehabt. Israel hätte sich daran gestört, doch an seiner Botschaft ist nichts falsch – oder zumindest ist nichts dran auszusetzen, wenn man sich die Reden der anderen anguckt. Auffallen tut Boehm damit jedenfalls nicht, nur redet er etwas ~philosophischer~.
[1] Vgl. https://www.buchenwald.de/besuch/veranstaltungen/festakt-weimarhalle und https://www.buchenwald.de/besuch/veranstaltungen/gedenkfeier-zum-befreiungstag-2025
[2] Vgl. https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/ueber-uns/vorstand
[3] Neumann, Peter für ZEIT: https://www.zeit.de/kultur/2025-04/omri-boehm-buchenwald-gedenkfeier-ausgeladen
[4] Knöfel, Ulrike im SPIEGEL: https://www.spiegel.de/kultur/gedenkfeier-fuer-buchenwald-befreiung-was-bedeutet-die-ausladung-von-philosoph-omri-boehm-a-ef4210aa-e3cb-4104-b0a6-212183dde14c
[5] Peitz, Christiane im Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/kultur/streit-um-israelisch-deutschen-philosophen-omri-boehm-in-wien-die-falsche-rede-am-falschen-ort-11623223.html
[6] https://x.com/IsraelinGermany/status/1908125958692893000
[7] https://x.com/IsraelinGermany/status/1907402318728822880
[8] Vgl. http://hrw.org/de/news/2010/07/16/syrien-zehnjahrige-prasidentschaft-al-assads-von-repressionen-gekennzeichnet
[9] Assheuer, Thomas für ZEIT: https://www.zeit.de/kultur/2025-04/omri-boehm-philosoph-universalismus-denken-werk/komplettansicht
[10] Bertsch, Matthias im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/israel-eine-utopie-philosoph-omri-boehm-uebt-kritik-an-100.html
[11] Gutmair, Ulrich in der taz: https://taz.de/Streit-um-Omri-Boehm-in-Buchenwald/!6077339/
[12] Ebd.
[13] Boehm, Omri: Israel – Eine Utopie, S. 52.
[14] Vgl. Boehm, Omri: Ebd., S. 65 f., und
[15] Vgl. Boehm, Omri: Ebd., S. 52.
[16] Vgl. Mahla, Daniel für bpb: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/israel-336/268915/der-umgang-mit-der-schoah/
[17] Vgl. Boehm, Omri: Ebd., S. 75-80.
[18] Vgl. Goldmann, Ayala in der Jüdischen Allgemeinen: https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/itamar-ben-gvir-und-die-rote-ampel/
[19] Boehm, Omri: Ebd., S. 75-80.
[20] Illouz, Eva für Süddeutsche: https://www.sueddeutsche.de/kultur/eva-illouz-israel-preis-verweigert-unterschrift-westjordanland-gastbeitrag-li.3230131?reduced=true
[21] Begriff aus psychoanalytischer Methode zur Erklärung der Mechanismen von Antisemitismus
[22] Husic, Sead für Amnesty https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/bosnien-und-herzegowina-wahlrecht-politische-gleichstellung
[23] Zur Transparenz: Ich habe nicht das gesamte Buch „Israel – eine Utopie“ gelesen, nur stichwortartig und kapitelweise. Zu „Panarabismus“ gab es keinerlei Treffer im Buch meiner Ausgabe.
[24] https://mario-voigt.com/ueber-mich
[25] https://thueringen.de/medienservice/veranstaltungen/detailseite/ministerpraesident-mario-voigt-62
[26] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/regional/thueringen/wulff-rechtspopulismus-kzbuchenwald-100.html
[27] Gathmann, Florian und Reimann, Anna für SPIEGEL: https://www.spiegel.de/politik/cdu-und-islam-gute-muslime-schlechte-muslime-a-459db470-82bc-437a-8da3-f18cbda97dcc
[28] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestagswahl-christian-wulff-attackiert-friedrich-merz-afd-und-linke-schicken-blumenstrauss-a-ba82a39e-4f2a-40dc-92cd-8faeb699217c
[29] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/regional/thueringen/wulff-rechtspopulismus-kzbuchenwald-100.html
[30] Vgl. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2025-04/christian-wulff-buchenwald-mittelbau-dora-gedenken-afd-omri-boehm
[31] https://www.zeit.de/gesellschaft/2025-04/omri-boehm-gedenkstaette-israel-buchenwald
[32] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/warum-wir-juden-in-thueringen-die-absage-an-omri-boehm-richtig-finden/
[33] Vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antisemitismus-2024/549360/instrumentalisierte-feindschaften/
[34] Siehe bspw. hier https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ns-vergleiche-antisemitismus-103.html
[35] https://x.com/Ron_Prosor/status/1908135141861446081
[36] Ebd.
[37] Boehm, Omri in der Süddeutschen: https://www.sueddeutsche.de/kultur/omri-boehm-kz-buchenwald-gedenken-rede-li.3231805
[38] https://www.sueddeutsche.de/kultur/omri-boehm-kz-buchenwald-gedenken-rede-li.3231805