Das Zerren um die Hoheit an der Erinnerungskultur – oder die „Causa Omri Boehm“

von Antonia Sternberger

400.000m² Häftlingslager, 277.800 Häftlinge im Alter von 2 bis 86 Jahren, 1.944 Männer, Frauen und Kinder mit Todestransporten nach Auschwitz, 56.000 Tote, 21.000 befreite Häftlinge – das war das Konzentrationslager Buchenwald, welches 1937 auf dem Ettersberg bei Weimar erbaut wurde, samt seiner Außenlager. Anstatt der Befreiung der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora am 6. April 2025 bei einem Festakt gebührend zu gedenken und die Ermordeten sowie Überlebenden zu ehren, zog diese Gedenkveranstaltung unnötige Aufmerksamkeit auf sich. Ursprünglich wurde der umstrittene deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm eingeladen, um eine Gedenkrede zu halten. Daraufhin schaltete sich jedoch die israelische Botschaft ein, um dies zu verhindern – mit Erfolg: Boehm wurde einige Tage vor dem Festakt ausgeladen. Die Reden hielten andere, u. a. Marina Weisband, Bundespräsident a.D. Christian Wulff sowie der Thüringer Ministerpräsident Mario Voigt. Viel wurde in den Tagen nach Boehms Ausladung durch den Gedenkstättenleiter, Jens-Christian Wagner, über die “Causa Omri Boehm” geredet, gestritten, geschrieben und analysiert. Vor allen Dingen wurde sich von nicht betroffenen Deutschen auf die Seite Boehms und des Gedenkstättenleiters geschlagen, die israelische Reaktion lautstark kritisiert und ihr mit Unverständnis begegnet.

Doch, was ist eigentlich dran an der Kritik des israelischen Botschafters an Omri Boehm? Was sagt seine Einladung über deutsche Erinnerungskultur aus und wie ist es um diese seit dem 7. Oktober 2023 bestellt?

Der Kern der Debatte sollte doch die Frage sein, wie es überhaupt zu diesem Eklat kommen konnte. Wagner, der die Gedenkstätte seit vielen Jahren leitet, begründete die Auswahl Boehms damit, dass man sich von ihm “auf hohem Reflexionsniveau ethisch fundierte Gedanken zum Verhältnis von Geschichte und Erinnerung, insbesondere zum Wert der universellen Menschenrechte und ihrer Bedeutung mit Blick auf die NS-Verbrechen versprochen habe”. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden, dennoch ist zu hoffen, dass man sich bei der Auswahl aller Redebeiträge mit den potenziellen Rednern und ihrer Historie befasst. Dies wird mutmaßlich auch hier der Fall gewesen sein, aber kann man diese Erwartungshaltung aufrechterhalten, wenn man sich mit früheren Äußerungen Boehms zu der Shoah, Israel und dem Nahostkonflikt befasst hat? Zumindest nicht ohne naiv zu wirken. Ob bei nichtjüdischen Deutschen ein umfängliches Verständnis dafür da ist, was “Erinnerungskultur” bedeuten und wie diese gelebt werden sollte, geriet schon in den letzten Jahren durch Teile der jüdischen Gemeinschaft in Kritik. So schrieb die jüdische Autorin Mirna Funk in ihrem 2024 veröffentlichten Sachbuch “Who Cares” bereits davon, dass der Fokus des deutschen Erinnerns auf Juden als reine Opfer liege und Geschichten des vielfältigen Widerstands ausgeblendet würden. Deutsches Erinnern läge so den Fokus auf jüdische Passivität und Schwäche statt auf Stärke und Mut. Diese Kritik griff sie auch während der “Causa Boehm” auf, um auf Instagram anzumerken, dass Gedenkstättenleiter schon länger an den Bedürfnissen von Jüdinnen und Juden vorbei erinnern würden. Dieser Vorwurf hat sich nicht direkt gegen Jan-Christian Wagner gerichtet, sondern hat Gefühle zusammengefasst, die bei einigen Betroffenen in den letzten Tagen ausgelöst wurden. 

Gegenüber dem Spiegel erklärte der Gedenkstättenleiter, weshalb er dem Drängen der israelischen Botschaft nachgekommen sei und führte an, dass er “seine Ehrengäste vor einem Konflikt schützen wollte, mit dem sie nichts zu tun hätten.”Damit bezieht er sich nicht auf den Nahostkonflikt, sondern auf eine potenzielle Spannung zwischen der Gedenkstätte und der israelischen Regierung, die die Veranstaltung ansonsten überschattet hätte. Nun könnte man zynisch fragen, ob durch die Einladung Boehms ein solcher Konflikt nicht schon ohnehin ausgelöst wurde. Omri Boehm ist als Philosoph kein unbeschriebenes Blatt und hat zum einen mit seinen Ausführungen zu Israels Verhältnis und Umgang mit der Shoah für Furore gesorgt. Auch durch Kommentare zum Vorgehen der IDF im Gaza-Streifen hat er Kritik auf sich gezogen. Dieser Umstand kann und muss einem so erfahrenen und gebildeten Gedenkstättenleiter wie Herrn Wagner bewusst gewesen sein und hätte zu einem Hinterfragen dieser Einladung führen müssen. Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Art und Weise der israelischen Kritik an der geplanten Rede als zutiefst unsachlich bezeichnet werden muss. So wurde auf dem X-Profil des Israelischen Botschafters Ron Prosor ein Post abgesetzt, in dem Omri Boehm mit Baschar al-Assad verglichen wurde. Eine derartige Aussage ist dem Thema nicht angemessen, übertrieben und führte dazu, dass die eigentliche Kritik an der Person Boehm in der erregten Aufmerksamkeit unterging. Statt sich dieser anzunehmen, wurde medial der Ton des Posts diskutiert und gerade auf Social Media als Beleg dafür verstanden, dass die israelische Regierung “keinen Anstand hätte” und ihrem Benehmen “mal Einhalt geboten werden müsse”. 

„Das Schlimmste, was er in 25 Jahren Gedenkstättenarbeit erlebt hat“

Den vielen Aussagen unterschwellig beiwohnenden Antisemitismus beiseite – nicht nur Journalisten, Aktivisten, Politiker, Menschen mit viel Meinung legten ihre Aufmerksamkeit allein auf den kruden Vergleich und die Tatsache, dass sich Wagner zu einer “Ausladung” Boehms genötigt sah. Wagner selbst erläuterte gegenüber dem rbb, dass “einem Enkel einer Holocaust-Überlebenden das Wort zu versagen, wirklich das Schlimmste sei, was er in 25 Jahren Gedenkstättenarbeit erlebt habe. Diese Aussage Wagners kann und muss man kritisieren. Nicht nur, weil er den Grund für die deutliche Kritik an Boehm und den Wunsch aller Israel Nahestehender diesem keine Bühne zu geben, nicht benennt, sondern weil es aberwitzig erscheint, dass dieser Umstand, das Schlimmste ist, was Wagner in über zwei Jahrzehnten Erinnerungs- und Gedenkarbeit erlebt haben möchte. Dass das Eingreifen Israels sicherlich ein Schock gewesen sein mag, soll hier gar nicht bezweifelt werden. Nur ist auch bekannt, dass die Gedenkstätte Buchenwald und insbesondere ihr Leiter Jan-Christian Wagner immer wieder Bedrohungen, Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Todesdrohungen, antisemitischen und NS-Terror verherrlichenden Schmierereien und Nachrichten ausgesetzt sind. In diesem Wissen ist es dennoch “das Schlimmste, was er erlebt hat”, dass Vertreter des einzigen jüdischen Staates auf dieser Welt eine Rede eines Philosophen verhindern möchten, der in ihren Augen (und in denen vieler Juden weltweit) die Erinnerung an die Shoah verwässert? Diese Aussage ist ebenso unwürdig und kritisch zu betrachten, wie Boehm mit einem mordenden Diktator wie Assad zu vergleichen.

Doch was wurde von Seiten Israels als Kritikpunkt vorgebracht? In dem Post auf X wird angeführt, dass Omri Boehm “unter dem Deckmantel der Wissenschaft versucht, das Gedenken an den Holocaust mit seinem Diskurs über universelle Werte zu verwässern und damit seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben.” Zudem bezeichne Omri Boehm, laut Botschafter Ron Prosor, die Erinnerungskultur als “goldenes Kalb” und Yad Vashem als “Waschmaschine für rassistische Politik. Damit bezieht sich die israelische Botschaft also auf Aussagen und Ausführungen Boehms und hielt seine Rednereigenschaft nicht anlasslos für problematisch. Zwar ist der Vorwurf gegenüber dem Philosophen, dass er die Shoah und die sog. Nakba auf eine Stufe stelle, so nicht haltbar. Er fordert die Anerkennung und Erinnerung an die Nakba in Israel, um so ein “gerechtes Staatsbürgertum in Israel” zu gewährleisten. Einen direkten Vergleich zieht er hingegen nicht. Richtig ist jedoch, dass er zustimmend den jüdischen Philosophieprofessor Yehuda Elkana zitiert, der die Ansicht vertrat, dass es „keine größere Gefahr für Israels Existenz“ als die „Erinnerung an den Holocaust“ gebe.Boehm schreibt auch, dass „eine abnorme Form des Erinnerns die rassistische Gewalt israelischer Politiker normalisiert” habe. Man kommt nicht umhin, dass diese Aussagen Fragezeichen aufwerfen.

„Omri Boehm ist kein Antisemit“

Die Erinnerung an die Shoah ist mittlerweile ein fester Bestandteil der israelischen Identität. Schon allein, weil die Existenz Israels der tagtägliche Beweis dafür ist, dass Jüdinnen und Juden weltweit nun einen Zufluchtsort haben, wenn sie sich Gewalt, Ausgrenzung und Gefahr gegenübersehen. Die Tatsache, dass es diesen Zufluchtsort in dem Gebiet, aus dem sie 2000 Jahre vorher vertrieben wurden, während der Shoah nicht gab, würde schon als Erklärung für die Erinnerung an den Holocaust ausreichen. Auch aufgrund des Fehlens eines Zufluchtsortes, einer Heimat, eines sicheren Hafens wurden Millionen europäische Juden, die versuchten Europa hinter sich zu lassen, in die Gaskammern geschickt.

“Dass es keine größere Gefahr für Israels Existenz als die Erinnerung an den Holocaust gebe”, unterstellt, dass Israel die Erinnerung an die beinahe Auslöschung des Jüdischen Volkes für ominöse Zwecke und zum eigenen Vorteil nutzt. Wenn man sich in diesem Kontext vor Augen führt, dass Boehm der Gedenkstätte Yad Vashem eine “abnorme Form des Erinnerns” unterstellt, die dazu dient “rassistische Gewalt israelischer Politiker zu normalisieren”, formt sich ein krudes Bild. Denn es fantasiert einen Zusammenhang zwischen der Situation der Palästinenser und der industriellen Vernichtung von über sechs Millionen Juden herbei, der schlicht und einfach nicht besteht. Man kann verschiedene Akte israelischer Regierungen und die daraus resultierende Lebensrealität von Palästinensern in der Westbank und Gaza kritisieren. Jedoch in den Raum zu stellen, dass israelische Politiker das Leid der Ermordeten und Überlebenden dafür missbrauchen würden, um ihre eigene politische Agenda zu rechtfertigen, könnte, würde man es nicht besser wissen, auch aus der Feder von Antisemiten stammen.

Omri Boehm ist kein Antisemit, er versteht sich selbst als Zionist und in seiner Rolle als Philosoph ist es geradezu seine Aufgabe, sich der Welt, seinem Herkunftsland und der Komplexität des Lebens und der Vergangenheit zu stellen und sich mit ihr zu beschäftigen. So kritisch und schwierig viele seiner Aussagen auch sind, führen sie nicht automatisch dazu, dass seiner Arbeit keinerlei Platz gegeben werden sollte. Es ist auch eine Eigenschaft freier und demokratischer Gesellschaften, solchen Positionen Raum zu geben, sich kritisch und sorgfältig mit ihnen auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und ein Aushalten ihrer zu ermöglichen. Wäre Omri Boehm also für eine Rede an einer Universität eingeladen worden, wäre eine Ausladung tatsächlich fehl am Platz. Denn gerade an akademischen Institutionen, die die Wissenschaftsfreiheit hochhalten, sollte ein Meinungsaustausch ermöglicht werden, wodurch auch die Gelegenheit zu offenem Austausch und Zeigen von Missbilligung oder Zustimmung bestehen würde. Eben dies ist bei einer Gedenkrede anlässlich des Jahrestags der Befreiung der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora aber nicht gegeben. Schon der Umstand, dass in den Augen der israelischen Botschaft das Risiko bestanden hätte, dass Omri Boehm in seiner Rede die israelische Erinnerungskultur als solche kritisieren könnte, dürfte als Grund für das Drängen zur Ausladung ausreichen. So wie Wagner schlussendlich die Überlebenden vor einem Konflikt, der nichts mit dem Gedenktag zu tun hatte, schützen wollte, war dies auch das Interesse und der Antrieb der Botschaft.

Da die Ausladung Boehms und insbesondere, die “Dreistigkeit” der israelischen Botschaft auf diese zu drängen den deutschen Medienbetrieb zutiefst erzürnt und beschäftigt hatte, wurde Boehms Rede sogleich von der SZ abgedruckt. Fast um, so wirkt es, zu zeigen, dass die “Israelis” sich mal nicht so haben sollten und zu bekräftigen, dass noch immer nichtjüdische Deutsche darüber entscheiden können, was zum Gedenken an die Ausbeutung, Entmenschlichung und Ermordung und letztendlich Befreiung von Juden, Kommunisten, Sinti & Roma, Andersdenkenden gesprochen wird. Das sollten doch nicht die Opfer machen, wo kämen wir da denn hin?

Im Endeffekt kann man aber über diese Veröffentlichung dankbar sein, da sie belegt, dass es vertretbar war, Boehm auszuladen. Neben allgemeinen Ausführungen zum Erinnern und dazu, welche Bedeutung Erinnern für eine Gesellschaft hat und haben sollte, schlägt Boehm einen Bogen zum Nahostkonflikt und dessen Rolle, die er in den Lehren, die aus Buchenwald gezogen werden können, spielt. Er argumentiert, dass weder die Massaker des 7. Oktober noch der sich anschließende Krieg im Gazastreifen mit dem Holocaust zu vergleichen sind, wie es auf beiden Seiten mit dem Bezug auf “Nie wieder” immer wieder getan wird. Er gibt aber zu, dass in diesen Aussagen dennoch ein “Körnchen Wahrheit” stecke, indem sie offenbaren würden, dass „zweimal die vollständige Entmenschlichung von Gesellschaften nicht verhindert wurde“. Somit stellt er zumindest indirekt beide Ereignisse auf eine Stufe und stellt einen relativierenden Vergleich an, wie er es bereits ähnlich in seiner “Rede an Europa” am Judenplatz in Wien letztes Jahr unternommen hatte.

Selbstverständlich lassen sich weder der 7. Oktober noch der Krieg in Gaza mit den Schrecken, dem Ausmaß sowie dem Ablauf des Holocaust vergleichen. Trotzdem ist hervorzuheben, dass die Massaker des 7. Oktober, an dem 1.200 Jüdinnen und Juden aufgrund ihres Jüdischseins ermordet, gefoltert, erniedrigt, vergewaltigt und entführt wurden, eine Zäsur in der Geschichte des Staates Israel darstellt. Der 7. Oktober ist das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah und ist ausgerechnet in dem Land geschehen, dass ihren Schutz wie ein ewiges Versprechen vor sich herträgt. In Anbetracht dessen ist die Verwendung des Ausrufs “Nie wieder” oder “Nie wieder ist jetzt” verständlich, wurden doch neben der direkten Betroffenheit auch Juden weltweit retraumatisiert, Ängste hervorgeholt und das Sicherheitsgefühl, durch den sich seitdem hemmungslos entladenden Antisemitismus, zerstört. Auch die fehlende Solidarität mit den Opfern des 7. Oktober, gerade mit den Geiseln, führt zu einem Gefühl von Isolation, welches sich ähnlich in den 1930er und 1940er Jahren aufgrund der offenen Diskriminierung und Vertreibung breitmachte. Auch hier handelt es sich mitnichten um eine Gleichsetzung, lediglich um ein Anerkennen jüdischer Lebensrealität seit dem 7. Oktober, die so häufig ausgeblendet wird. 

„die vollständige Entmenschlichung von Gesellschaften“

Der Umstand, dass Omri Boehm den 7. Oktober und den Gaza-Krieg implizit auf eine Stufe stellt und jeweils von “vollständiger Entmenschlichung von Gesellschaften” spricht, mutet seltsam an. Diese Kritik bedeutet nicht, dass das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza nicht anerkannt wird oder vereinzelte Kriegsverbrechen der IDF negiert werden. Als Zivilbevölkerung seit über 1 1/2 Jahren einen Krieg überleben zu müssen, dem man nicht entfliehen kann, konstant als Schutzschild und als Spielball zu Propagandazwecken missbraucht zu werden, Hunger zu leiden und Hab und Gut zu verlieren, ist zutiefst traumatisch. Es belegt ein weiteres Mal, dass ein jeder Krieg dazu führt, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Von einer “vollständigen Entmenschlichung” der Palästinenser in Gaza zu sprechen und die Situationen auf eine Stufe zu stellen, mutet jedoch zynisch an. Das eine ist ein genozidales Massaker, an dem Terroristen der Hamas und palästinensische Zivilisten ihren Judenhass auslebten und unter dem Deckmantel des Widerstands jegliche Achtung vor menschlichem Leben und Menschenrechten über Bord warfen, wie auch die weitere inhumane Behandlung der Geiseln zeigt. Das andere ist der Krieg, der als Reaktion darauf folgte, um die Hamas als Terrororganisation zu zerstören und die Geiseln zu befreien. Auf einer rein moralischen Ebene ist jeder Akt der Gewalt, ob gerechtfertigt oder nicht, “entmenschlichend”. Diesen Bogen aber in einer Rede ziehen zu wollen, die man vor Überlenden der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora, die teilweise Todesmärsche überlebt haben, halten möchte, ist gewagt. Man muss, um es mit den Worten des israelischen Schriftstellers Amos Oz zu sagen, zwischen “Graden des Bösen” unterscheiden. Eine solche Differenzierung nimmt Boehm in seiner angedachten Gedenkrede nicht vor.

Mit einem hat Omri Boehm grundsätzlich Recht. Ein Vergleich zwischen der Shoah und der Ereignisse seit dem 7. Oktober kann nicht greifen. Dass auf jüdischer Seite, gerade aufgrund der Erfahrungen des Holocaust, Ängste, Sorgen und Erinnerungen wachgerufen werden und auf diese und den grassierenden Antisemitismus mit “Nie wieder ist jetzt” aufmerksam gemacht wird, ist aber nachvollziehbar und verständlich. Diesen eng mit jüdischem Leid verwobenen Slogan zu nutzen, um wie es viele Pro-Palästina-Anhänger tun, einen herbeigeschworenen Genozid zu betrauern und so der Shoah ihre Singularität abzusprechen, ist kritikwürdig. Dass eine solche dezidierte und direkte Kritik von Boehm nicht kommt, sondern auf beide Seiten abgestellt wird, ist enttäuschend. 

Aufgrund der Tatsache, dass seit dem 7. Oktober auf Gedenkveranstaltungen und in Gedenkposts, u.a. anlässlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar, Juden als primäre Opfergruppe unerwähnt bleiben – als hätten sie es auf Grund des Krieges in Gaza nicht verdient, dass man ihrem Leid gedenkt – hätte Boehm in seiner Rede auf den Brückenschlag zum aktuellen Konflikt verzichten sollen. Stattdessen wäre ein Fokus auf das Erlebte der Überlebenden, auf die Kraft der Erinnerung und die Gefahr des Vergessens gerade angesichts des weltweit um sich schlagenden Antisemitismus angebracht gewesen. Die Opfer der Shoah verdienen es, dass ihr Leid, ihre Erfahrungen, ihre Kämpfe und ihr Leben im Mittelpunkt des Gedenkens stehen. Aufgrund des Umgangs aller Beteiligten mit der “Causa Boehm” war ein ehrenhaftes Gedenken nicht möglich. 80 Jahre nach der Befreiung der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora wurden schlussendlich Kränze niedergelegt, Reden geschwungen, aber vor allen Dingen dem einzigen jüdischen Staat und deutschen Juden abgesprochen, Einfluss auf die Art und Weise des Erinnerns an ihren eigenen Genozid zu nehmen. Das ist beschämend und muss sich ändern. Die letzten Überlebenden der Shoah werden nicht mehr lange unter uns weilen. Gerade für sie sollten Gedenkstätten, Politik, Medien und alle Beteiligten eine jüdische Perspektive des Erinnerns fördern, in sich gehen und die Gräuel der Shoah in ihrer Singularität begreifen, jüdisches Leben in der Gegenwart schützen und vor allen Dingen all` denjenigen gedenken, die blinder Menschenhass und die Fratze des Antisemitismus so grausam aus dem Leben gerissen hat.