am 24.04. 2025 von Alexander Tsysterer
„Sehr geehrte Frau Dr. Münch, sehr geehrtes JuPa, sehr geehrte Israelitische Gemeinde Leipzig sowie Rabbiner Zsolt Balla, sehr geehrte Gäste
Heute ist Jom HaShoa. Ein Tag, an dem wir uns unserer Vergangenheit stellen und eine Bilanz aus unserer Gegenwart ziehen müssen. Der Tag unterstreicht einen sehr zentralen Punkt unserer jüdischen Identität und zwar das Erinnern. Das Erinnern an unsere engsten Menschen, an ihre Geschichten, ihre Stimmen, ihr Lachen, aber auch ihre Sorgen, ihren Schmerz, ihren Widerstand – an das, was sie durchleben mussten. Wir versuchen zu erinnern an Momente, in denen gesagt wurde, dass all das nie wieder passier würde. Doch seltsamer Art und Weise sehe ich Bilder, Emotionen und Menschen vor meinem inneren Auge, die diese Ereignisse wieder reproduzieren oder sie zu reproduzieren versuchen. Seit dem 7. Oktober 2023 haben uns die Geister der erzählten Geschichten wieder eingeholt.
Im Dezember 1932 besetzten nationalsozialistische Studenten einen Hörsaal, um den jüdischstämmigen Professor Gerhard Kessler an seiner Vorlesung zu hindern. Sie skandierten Parolen wie ,,Alle Juden raus”, drohten und sangen NS-Lieder, um ihn zum Schweigen zu bringen. Am 7. Mai 2024 besetzten linksradikale Hamas-Demonstranten mit Islamisten der Grauen Wölfe das Audimax der Universität Leipzig, organisierten Einlasskontrollen, skandierten ,,Alle Zionisten raus” und griffen am Ende sowohl jüdische als auch nichtjüdische Studentinnen und Studenten an. Seit dem 7.Oktober herrscht bis heute auf allen deutschen Campussen ein Klima von Angst vor Ressentiments, vor Hetze und vor möglicher körperlicher Gewalt.
Am 31. Juli 1932 wurde die NSDAP in Thüringen und am 24. April 1932 in Sachsen zur stärksten Partei gewählt. Ähnlich erlebte Thüringen letztes Jahr einen Aufstieg der AfD zur stärksten Kraft, während die Partei in Sachsen fast die führende Position erreichte. Diese Parallelen zeigen, wie extremistische Strömungen wieder erstarken.
Zudem hat sich die Partei Die Linke zunehmend radikalisiert, da viele ihrer Strukturen von autoritären, linken Extremisten und Islamisten unterwandert sind. Gleichzeitig biedert sich die CDU immer mehr der AfD an, was die Demokratie weiter gefährdet. Extremistische Kräfte von beiden Seiten untergraben die politische Mitte, die einst der stabile Kern unserer Demokratie war.
Der Tiefpunkt seit dem dem 07. Oktober, der mich persönlich am meisten erschüttert hat, war der Mord an Schiri, Ariel und Kfir Bibas durch die Terroristen der Hamas. Was für ein Mensch muss man sein, um ein wehrloses Baby seiner Mutter zu entreißen – und es mit bloßen Händen zu ersticken? Ich möchte mir nicht einmal vorstellen, ob Schiri all das mit ansehen musste. Ihre Namen – Schiri, Ariel, Kfir – sind zu den Geistern der alten Geschichten geworden. Jene Geschichten, die unsere Großeltern flüsterten, wenn sie von den Nächten erzählten, in denen Kinder verschwanden und Mütter für immer verstummten. Wir dachten, sie würden einer anderen Zeit angehören, einem anderen Schatten der Geschichte. Doch nun stehen sie wieder vor uns – dieselbe Kälte, dieselbe Grausamkeit, nur in neuen Gewändern. Die Vergangenheit hat ihr Gesicht verändert, aber ihr Atem ist der gleiche geblieben
Die Gräuel, die der Familie Bibas und vielen anderen jüdischen Familien am 07. Oktober widerfahren sind, erinnern mich an meine eigene Familiengeschichte. Genau drei Wochen vor dem 7. Oktober war ich in Jerusalem und besuchte Yad Vashem. Dort stieß ich auf den Namen meiner Urgroßtante: Leya Roza Rokha Agranowna. Sie wurde 1902 in Gomel (damals UdSSR, heute Belarus) geboren und 1942 oder 1943 zusammen mit ihrem jüdisch-kommunistischen Ehemann und ihren beiden Kindern ermordet.
Ein Dokument aus Yad Vashem beschreibt, wie die Nazis die Familie auf die Straßen Gomels zerrten. Zuerst wurden die Kinder vor den Augen ihrer Mutter erschossen. Sie musste mitansehen, wie ihr gesamtes Leben ausgelöscht wurde. Vor ihren Augen löschten sie ihr Ein und Alles aus. Sie verlor den Verstand – dann erschossen die Nazis auch sie.
Diese Geschichte ist weit entfernt von der Gegenwart, aber dennoch so nahbar, denn ich empfinde ähnliche Emotionen. Die Geister dieser alten Geschichten – von Müttern, die ihre Kinder verlieren, von Familien, die in wenigen Augenblicken ausgelöscht werden – haben uns wieder eingeholt. Was damals in Gomel geschah, wiederholt sich heute in anderen Formen, mit anderen Gesichtern. Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich.
Jom HaShoa ist nicht nur ein Tag des Mitgefühls und des Erinnerns, sondern auch ein Tag des Widerstands. Ein Widerstand der in der Vergangenheit ausgetragen wurde und bis heute sowie auch in der Zukunft anhalten wird. An alle Bürgerinnen und Bürger von Deutschland, die die Buchstaben der Demokratie in Herzen tragen – wir leben jetzt in krisenhaften Zeiten, wo unsere Demokratie wieder auf die Probe gestellt wird. Dem Geist der Vergangenheit muss mit der Verantwortung und Erkenntnis aus dem Geschehenen entgegengetreten werden, damit die Zukunft der Demokratie, des Zusammenlebens und der Menschenwürde noch eine Chance hat. Aus diesem Grund reden wir jedesmal über das ,,Nie Wieder” bzw das. ,,Nie Wieder ist jetzt. Nur durch unser gemeinsames Handeln, durch die Bewahrung unserer Werte und die unermüdliche Verteidigung der Menschlichkeit sowie des Erinnerns, kann das „Nie Wieder“ zu einem lebendigen Versprechen werden – nicht nur für uns, sondern für alle kommenden Generationen.
Am Israel Chai und Bring them home know“