“Du bist Tschetschelnyk”

Überleben unter Deutscher Besatzung

von Maya Roisman

„Du bist Tschetschelnyk“, sagte mein Opa immer, wenn ich mich nicht so verhielt, wie er es von mir erwartete. Auch meine Oma und mein Papa waren „Tschetschelnyk“, wenn sie „nein“ sagten und wagten, sich seiner patriarchalen Dominanz zu widersetzen. Meine ganze Kindheit über fragte ich mich, was das eigentlich bedeutete – war es eine Mentalität, die die Bewohner*innen dieses Dorfes mit dem seltsamen Namen teilten? Eine Charaktereigenschaft, die sich bis in die Gene übertrug?  

Als wir älter wurden und mein Opa zunehmend verwirrter, erzählte er uns eine Geschichte über diesen Ort und die Familie meiner Oma während der Shoah – eine Geschichte, die viel zu absurd und verrückt klang, um wahr zu sein.

Sonne, Eichenblätter, ein Kreuz und etwas, das wie ein Stadttor aussieht, Türkis und Gelb zieren das Wappen. Noch heute erkennt man den scheinbar bedeutungslosen Charakter dieses endlosen Vororts mit unbefestigten Straßen auf Google Street View. Kleine Häuschen mit Walmdächern aus Wellblech stehen hinter niedrigen, krummen Holzzäunen, ausgebleichte Werbetafeln und abgerissene Poster an der Spielothek sind das Sinnbild im Herzen der Stadt.  

Auf der deutschsprachigen Wikipediaseite fehlt zunächst jede Spur jener Legende, die mein Opa uns einst erzählte. Tschetschelnyk ist eine „Siedlung städtischen Typs“ in der ukrainischen Oblast Winnyzja, etwa 300 km südlich von Kyjiw, der Fluss Sawran schlängelt sich auf dem Satellitenbild hindurch. Laut Artikel scheint zwischen dem Bau einer Synagoge im 18. Jahrhundert und ihrer geplanten Renovierung 2018 historisch kaum etwas passiert zu sein. Aber hey – nach einer nüchternen Verwaltungsgliederung samt Aufzählung der 16 zugehörigen Dörfer wird immerhin erwähnt, dass die Schriftstellerin Clarice Lispector ihre Wurzeln in Tschetschelnyk hat. Ihre Familie floh kurz nach ihrer Geburt in den 1920er-Jahren vor Pogromen nach Brasilien.

Als ich die mit einfachem HTML auf Windows XP gebaute Seite myshtetl.org entdecke, stoße ich auf einen dieser Pogrome – datiert auf 1919. Ein Gerücht machte die Runde, im nahegelegenen Obodovka hätten Juden die ukrainische Bevölkerung angegriffen. Eine kriminelle Bande beschloss daraufhin, in Tschetschelnyk „präventiv“ gegen die jüdische Bevölkerung vorzugehen. Doch die ortsansässigen Christ*innen weigerten sich, mitzumachen. Damals, so schreibt die Website, bestand die Bevölkerung Tschetschelnyks zu zwei Dritteln aus Jüdinnen*Juden. Es gab eine Bahnverbindung zu den größeren Städten Winnyzja und Kyjiw, mit denen rege Handelsbeziehungen gepflegt wurden. Der Vater meiner Oma gehörte zu ihnen, er hatte mit seinem Supermarkt etwas Wohlstand aufgebaut, man lebte in einem feinen, aber bescheidenen Haus.  
Ich scrolle weiter, scanne die Times New Roman-Buchstaben, bis ich die relevanten Daten finde – und traue meinen Augen kaum.

Nach dem zweiten Klingeln verkleinert sich mein Selfie-Video. Ein quer gehaltenes Bild mit verzogenem Innenraum erscheint, kurz darauf huscht die obere Gesichtshälfte meiner Oma ins Bild. Ich erzähle ihr von meiner Recherche. Sie war zur Zeit der Shoah ein Mädchen von drei Jahren. Ihre Eltern sprachen nie über diese Zeit – alles, was sie weiß, stammt aus den Erzählungen ihres älteren Bruders.  

„Sie sagen, die Juden hätten im Zweiten Weltkrieg nicht in der Roten Armee gekämpft, aber das stimmt nicht. Mein Vater ist in den Krieg gezogen, mein Bruder und ich blieben mit meiner Mutter und dem Großvater zurück.“ Oma erzählt, wie die Nazis, nachdem sie in Tschetschelnyk einmarschiert waren, die jüdische Bevölkerung aus ihren Häusern holten:  

„Wir wurden in der Synagoge zusammengetrieben, dann trennten sie die Stärkeren von den Schwächeren.“  
Laut myshtetl geschah dies an einem Tag im August 1941.  
„Was haben wir ihnen getan? So viele Jahrhunderte. Warum wir?“  
Ich fragte sie, woher die Besatzer wussten, wo die jüdischen Familien wohnten.  
„Die Ukrainer wussten, dass die Deutschen nur die Juden suchten. Sie haben unsere Häuser markiert. Wir sollten nach Babyn Jar gebracht werden.“

Was folgte, war die Vorbereitung auf das, was heute als Holocaust durch Kugeln bezeichnet wird, also die Zeit vor dem Jahr 1942, als die Vernichtungslager noch nicht betrieben wurden, Munition nicht gescheut und die „Drecksarbeit“ von Wehrmachtssoldaten und der SS selbst übernommen wurde. Wie in Babyn Jar mussten einige der Versammelten eine Grube ausheben – groß genug, um das Verbrechen zu vertuschen. Schaufeln in der Hand, umringt von SS-Soldaten, die ihnen Gewehre in den Nacken hielten.  

Wikipedia Artikel zum Massaker in Babys Jar

Dann unterbrachen Motorengeräusche die Szene. Ein Mann in Offiziersuniform fuhr auf einem Motorrad vor, rief den verantwortlichen SS-Mann zu sich. Die Anweisung käme von ganz oben – die Erschießung solle um ein paar Tage verschoben werden.  Noch in derselben Nacht nutzte ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Tschetschelnyks die Gelegenheit zur Flucht. Wer blieb oder nicht entkam, erlitt im 1941 errichteten Ghetto von Tschetschelnyk Demütigungen, Schikane oder den Tod.

„Man erzählte, er sei ein Russe gewesen, der sich als SS-Offizier verkleidet hatte“, sagt meine Oma, womit sie einen sowjetischen Soldaten meint. Andere Versionen dieser sogenannten Letzten Legende der jüdischen Folklore erzählen von einem Partisanen und manche vermuten dahinter sogar den sagenumwobenen Kalaschnikow. Tatsächlich berichtet Faina Vinokurova in The Fate of Bukovinian Jews, dass Anführer der Gemeinde Kontakte zum Untergrund pflegten und später sogar finanzielle Unterstützung für Partisanen organisierten. Eine unromantischere Theorie: Ein hoher rumänischer Beamter und Nazi-Kollaborateur sollte den Ort besuchen – die SS wurde abgezogen.

„Meine Mutter floh mit mir auf dem Arm“, erzählt Oma, sie brachte das Mädchen, ihren Bruder und den kranken Großvater in ein Dorf namens Bilyi Kamin, etwa 10 Kilometer entfernt. Dort nahm sie eine ukrainische Familie auf, mit der mein Urgroßvater durch seinen Supermarkt geschäftlich verbunden war. „Wir lebten im Keller, sie brachten uns Wasser und Essen.“ Auf meine Frage, wie lange sie dort blieben, zögert sie kurz:  „Na, bis die Deutschen wieder abzogen.“  Drei Jahre später – 1944.  
Ihr Vater, sagt sie stolz, „kam bis nach Stalingrad, wo sie die Schlacht gewonnen haben.“ Ein Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs.  Als er 1947 nach Tschetschelnyk zurückkehrte, war sein Haus zerstört, die Familie verstreut. Er holte sie zurück und kaufte mit seinem Sold eine kleine Wohnung, in der sie bis zum Lebensende leben würden.  

„Weißt du, ich gelte hier als…“ – sie sucht nach Worten. Überlebende?  
„Ja“, sagt Oma.  
„Und das Einzige, was ich ein bisschen bereue, ist, dass ich diese Familie nie wiedergefunden habe. Wir verdanken ihnen alles.“

Ich erzähle ihr, dass ich mitgeschrieben habe, und frage, ob ich ihre Geschichte veröffentlichen darf. Dann kehren wir zu den üblichen Themen zurück. Ich höre ihr zu, wie sie erzählt, dass sie mir als Kind eine Hypnose-Kassette eingelegt hatte, weil ich nicht schlafen wollte. Ich platzte mitten in der Nacht ins Schlafzimmer meiner Großeltern und beschwerte mich über den Stuss, den der Mann da redete.  

Zurückblickend fühlt sich diese Weigerung an als wäre ich eine, mit der Stimme meines Opas ausgesprochene, Tschetschelnyk.