Joel Ben Joseph & Dario mit einem Kommentar von Alexandra Krioukov
„Wer versucht, zwei Pferde gleichzeitig zu reiten, landet mit dem Hintern im Dreck.“ erklärt der Richter mit Blick auf den Verteidiger Ehssan Khazaeli, während er das finale Urteil verkündet. Dieses lautet: drei Jahre Freiheitsstrafe. Dabei bestätigt der Vorsitzende eindrücklich die antisemitische Motivation und die Vorsätzlichkeit des Angriffs. Hierdurch signalisiert das Gericht der Öffentlichkeit, dass eine antisemitische Motivlage bei Begehung von Gewaltverbrechen mit erschwerten Konsequenzen für die Täter einhergeht. Mit eben jenem Prinzip der Generalprävention begründete das Gericht die Härte des Urteils und ging dabei auch explizit auf den drastischen Anstieg antisemitischer Übergriffe seit dem 7. Oktober 2023 ein. Dass der Prozess in diesem Punkt zu Lasten des Angeklagten ausgehen würde, war nicht selbstverständlich, da sein Führungszeugnis vor dem Angriff auf Shapira keine Eintragungen aufgewiesen hatte und er auch nicht bei den antiisraelischen Aktionen auf dem Campus der FU in Erscheinung getreten war. Dabei lieferte das Gericht einen überzeugenden Ansatz zur Feststellung einer antisemitischen Tatmotivation. Denn sofern der Täter seine Tat vor Gericht nicht ausdrücklich mit einem rassistisch-antisemitischen Weltbild rechtfertigt, was die Ausnahme sein dürfte, muss das Motiv aus dem Kontext der Tat rekonstruiert werden.
Der relevante Vorfall ereignete sich am 2. Februar 2024, als der deutsch-israelische Student Lahav Shapira in Berlin-Mitte brutal zusammengeschlagen wurde. Shapira erlitt dabei komplexe Gesichts- und Schädelfrakturen und musste monatelang behandelt werden. Der ehemalige Kommilitone Shapiras, Mustafa A., räumte die Gewalttat bereits am ersten Verhandlungstag ein. Trotzdem bestritten er und sein Verteidiger bis zum Schluss, dass hinter seiner Tat ein antisemitisches Motiv gestanden habe. Nach politischem Druck und öffentlicher Forderungen nach einer Exmatrikulation, die hochschulrechtlich unmöglich war, exmatrikulierte sich Mustafa schließlich selbst und zog nach München.
Die zweite Sitzung beginnt mit der Aussage der Gerichtsmedizinerin. Sie schildert, wie knapp Shapira einer noch größeren Katastrophe entgangen ist: „Stumpfe Gewalt gegen den Kopf bedeutet immer eine abstrakte Lebensgefahr.” Ein leicht anders gesetzter Tritt hätte das Augenlicht kosten können, bestätigt die Zeugin auf Nachfrage des Anwalts des Nebenklägers. Anschließend werden die Platten und Schrauben herumgereicht, die Shapira zur Rekonstruktion seines Gesichts eingesetzt wurden. Auf Geheiß des Richters soll der Verteidiger diese auch seinem Mandanten zeigen. Dieser wirft nur einen kurzen Blick darauf, nickt bestätigend, worauf Shapiras Familie im Zuschauerraum nur mit Kopfschütteln reagieren kann.
Es folgt die Befragung des Informatikers, der Mustafas Handy ausgewertet hatte. Die Ergebnisse seiner Untersuchung werfen jedoch mehr Fragen auf, als sie beantworten. Zwei nahezu identische Videos des Tatorts, nur das zweite davon mit der Beschriftung „Musti hat den judenhurensohn totgeschlagen“ wurden in einem Abstand von neun Minuten gespeichert. Mangels gründlicherer Untersuchung bleibt unklar, ob Mustafa selbst das Video aufgenommen oder nur zugesendet bekommen hat.
Als nächste Beweisaufnahme folgt eine vollständige und deswegen ermüdende, aber auch erschreckende Verlesung der Chat-Screenshots aus den relevanten Gruppen der FU-Lehramtsstudierenden. Zwischen banalen Memes und kindlichen Streitereien fanden sich erschreckend offene antisemitische Äußerungen und Verschwörungstheorien, die das Klima verdeutlichen, dem Shapira ausgesetzt war. Darunter berüchtigte Klassiker wie: „Wir haben nichts gegen Juden, nur gegen Zionisten.“ Auf die Frage „Ist der Admin Lahav Jude?“, lautet die Antwort, die wohl als Humor daherkommen soll: „Die regieren nicht nur die Welt, sondern auch unsere Whatsapp-Gruppe“. Auch klare Drohungen gegen Shapira wurden formuliert: “Der Junge braucht Schläge.” Es werden Bildcollagen im Stile von Fahndungsfotos von Shapira in die Gruppe gepostet, auf denen er nur „dieser Zionist“ genannt und als Bedrohung für andere Studierende dargestellt wird. Nach Ansicht des Vorsitzenden Richters habe es sich um „übelsten antisemitischen Unrat“ gehandelt, der keineswegs von der Meinungsfreiheit gedeckt gewesen sei.
Nur einer der beiden als Zeugen geladenen Freunde von Mustafa erscheint auch. Hilfreich ist dieser aber nicht. Er kann sich angeblich an nichts erinnern und präsentiert eine Geschichte, die der Richter als unplausibel bezeichnet. Obwohl er ihn davor warnt, nicht zu lügen, zwingt er ihn nicht zur Vereidigung und lässt den enttäuschenden Zeugen gehen.
Damit endet die Beweisaufnahme und es folgen die Plädoyers. Staatsanwaltschaft und Nebenklage sehen das antisemitische Motiv klar bestätigt. Dass der Staatsanwalt nur 2 Jahre und 4 Monate fordert, sieht die Nebenklage aber kritisch. Der Verteidiger Khazaeli dagegen versucht, Mustafa als Affekttäter zu zeichnen, der von Shapira provoziert worden und nicht antisemitisch motiviert gewesen sei. Sowohl der Richter später im Urteil, als auch die Anwälte werfen Khazaeli deswegen eine versuchte Täter-Opfer-Umkehr vor. Mustafa A. selbst nutzt sein letztes Wort vor Gericht für eine halbherzige Entschuldigung, bei der er ein Lächeln unterdrücken muss. Zugleich erklärt er darin seine Reue darüber, dass der Fall missbraucht werde, um Juden in Deutschland Angst zu machen. Dies mag lächerlich erscheinen, wenn man bedenkt, dass gerade seine Tat der Beweis dafür ist, wie berechtigt diese Angst vor antisemitischer Gewalt doch ist.
Das Gericht schließt sich im finalen Urteil der Argumentation der Nebenklage an: Mustafa A. sei voll schuldfähig, habe vorsätzlich gehandelt und eindeutig ein antisemitisches Motiv gehabt. In der Urteilsbegründung erklärt der Vorsitzende Richter schließlich, weshalb der Grundsatz „in dubio pro reo“ sich hier trotz einer stellenweise unvollständigen Indizienkette nicht zugunsten des Angeklagten auswirke. Betrachte man jedes einzelne Indiz für sich, könne man vielleicht an einer antisemitischen Motivation zweifeln. Keine antisemitischen Aussagen des Angeklagten in den Chats, unklare Herkunft der antisemitischen Dekoration in der WG des Angeklagten, keine Beweise zur Entstehung des Snapchat-Videos, Aussage gegen Aussage zum Tathergang. Der Grundsatz erfordere jedoch eine Gesamtschau der Indizien. Mit anderen Worten: wenn man sich ein Szenario vorstelle, in dem der Angeklagte keine antisemitische Motivation gehabt hätte, müsste es etwa so lauten: ein junger, überdurchschnittlich gebildeter Mann, der bislang nie durch Gewalt auffiel und keine Vorstrafen hat, lässt sich durch das Abreißen von (antisemitischen) Plakaten und die Worte „kleine pubertäre Wichser“, die überdies in einem Gruppenchat fielen und nicht einmal an ihn persönlich gerichtet waren, derart auf die Palme bringen, dass er, als er Shapira Tage später zufällig in einer Bar trifft, diesem spontan den Schädel einschlägt. Ein solches Szenario ist aber mit der allgemeinen Lebenserfahrung unvereinbar. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Erst durch eine antisemitische Motivlage erscheint der für den Angeklagten untypische Gewaltausbruch überhaupt plausibel.
Besonders kritisch wird die Strategie Khazaelis bewertet, Shapira als Provokateur darzustellen. Diese Taktik hat letztlich das Strafmaß erhöht. Der Richter kritisiert dabei erneut den Verteidiger: „Verteidiger dürfen zwar nerven, aber dies hat Grenzen, die mehrfach überschritten wurden.“ Khazaeli hat sicherlich auch keine Sympathien gewonnen durch die Enthüllungen, die in der taz während des Prozesses veröffentlicht wurden. Darin werden seine Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen und AfD-Politikern dargelegt (taz-Bericht: https://taz.de/Prozess-zu-Angriff-auf-juedischen-Student/!6079243/). Ein wenig strafmildernd wirkte die mediale Vorverurteilung Mustafas durch die Medien. Gleichzeitig distanziert sich der Richter klar von deren Versuch, Mustafa als gläubigen Muslim zu betiteln: „Einen Menschen, der Cannabis raucht, Gewalttaten begeht und mehrere Suizidversuche hinter sich hat, kann man kaum fromm nennen.“
Mustafa A. wird voraussichtlich Berufung gegen das Urteil einlegen. Sollte dies geschehen, würde der Fall vor dem Landgericht verhandelt werden. Bis dahin bleibt das Urteil ein wichtiges Statement zum Umgang mit antisemitischer Gewalt in Deutschland.
Was bedeutet dieses Urteil für den Campus? Im Grunde bestätigt das Gericht, wovor antisemitismuskritische studentische Gruppen seit Jahren bzw. Jahrzehnten warnen. Erstens beginnt der Antisemitismus nicht erst dort, wo Juden mit dem Tode bedroht werden. Gerade der an deutschen Universitäten grassierende linke Antisemitismus kommt gerne im Gewand der antikolonialen Befreiung daher. Die Bedrohung jüdischen Lebens begründet sich hier nicht in rassistischen Theorien der Minderwertigkeit. In diesem Weltbild wird die Entmenschlichung von Juden durch die Rechtfertigung vermeintlich emanzipatorischer Gewaltexzesse und politische Feindmarkierungen aufgewertet, wie dies zum Beispiel in den Bild-Collagen von Shapira deutlich wurde. Dass eine Person dabei jegliches Vorurteil gegen ihre jüdischen Mitmenschen von sich weist und sich als Opfer vermeintlicher Tabus bzw. einer politisch motivierten Einschränkung der Meinungsfreiheit geriert, ist nicht nur nicht überzeugend. Diese Schutzbehauptung ist vielmehr ein typisches Merkmal dieser Klientel. Zweitens erkennt das Urteil die gestiegene Unsicherheit an deutschen Universitäten an. In dieser Atmosphäre kann ein zuvor nie durch Gewalttaten in Erscheinung getretener und gebildeter Mensch sich derart radikalisieren, dass er sich zu schweren Verbrechen entschließt. Der Fall des Angeklagten ist ein beunruhigendes Zeugnis dieser Problematik. Wenn die Leitungsebenen deutscher Universitäten es mit dem Schutz ihrer jüdischen Studierenden ernst meinen, müssen sie konsequent gegen diese Hetze vorgehen und dabei auch in Kauf nehmen, dass sie sich bei Teilen der Studierendenschaft und der Öffentlichkeit unbeliebt machen.
Alexandra Krioukov
Dieses Urteil wird die jüdische Community lange prägen. Mir ist besonders eins aus dem Moment der Urteilsverkündung in Erinnerung geblieben:
Neben vielen anderen waren circa zehn jüdische Studierende am zweiten Verhandlungstag anwesend. In den Gesprächen in den Pausen und den Reaktionen während der Verhandlung selbst, hat man auch Anspannung bemerkt – Angst davor, dass der antisemitische Charakter der Tat verkannt, geleugnet oder als unzureichend bewiesen, dargestellt werden könnte.
Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft und vor allem die finale Urteilsverkündung waren vor allem darin fast wortwörtlich atemberaubend, dass man in den Gesichtern der jüdischen Studierenden eine unglaubliche Erleichterung wahrnehmen konnte. Erleichterung darüber, dass die Realität differenziert und vollumfänglich gewürdigt wurde. Darüber, dass die Realität anerkannt wurde.
Wie ein kleiner heilender Moment für das Vertrauen in den Staat. Darin zeigt sich der Erfolg des gestrigen Urteils – und ich finde, das ist ein zusätzlicher Erfolg Lahavs gegen das ihm angetane gewaltsame Unrecht.
Und gleichzeitig: Wie absurd, dass einer der gefühlt größten Erfolge im Bezug auf Antisemitismus der letzten Zeit, seine schlichte Anerkennung in Folge der durch ihn erlebten Gewalt ist. Wie viel Vertrauen wurde vorher verspielt, wie viele Möglichkeiten der Prävention wurden versäumt. Wie perfide, dass es dazu erst kam.