„Hinaus zum Ersten Mai!“

Ein Gastbeitrag von Daniel Uschpol

„Hinaus zum Ersten Mai!“ heißt es jährlich, wenn sich deutschlandweit Arbeitskämpfer*innen fast schon folkloristisch auf den Straßen versammeln, um für bessere Arbeitsbedingungen, einen gerechten Lohn und das gute Leben für alle zu demonstrieren. Unter diesen Gruppen gibt es auch solche, die als regressiv, autoritär und antizionistisch gelten. Nicht wenige dieser Gruppen mobilisieren auch zur jährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demo (LL-Demo) um den Todestag ihrer Ermordung herum[1][2][3]. Rosa Luxemburg gilt als große Ikone der politischen Linken und erfreut sich auch bei genannten Gruppen großer Beliebtheit. Das liegt vor allem an ihren antinationalistischen Aussagen, in denen Antizionist*innen auch eine explizite Kritik am Zionismus erkennen. So schrieb sie ihrem jüdisch-russischen Genossen und Geliebten Leo Jogiches: „Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt“ oder „Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Schwarzen in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe[4]. Diese Aussagen zeigen deutlich, dass Rosa Luxemburg sich als Internationalistin verstanden hat, die jüdisches Leid nicht stärker bewertet hat als das Leid anderer und auch keine Gedanken an eine feste Heimat hegte. Doch passt die antizionistische Schablone, die einige Linke ihr überstülpen möchten überhaupt oder ist das Ganze dann doch etwas komplexer?

Rosa wurde am 5. März 1871 als Rozalia Luxenburg in Zamość in eine gebildete, jüdische Familie geboren. Sie wuchs zweisprachig mit Polnisch und Deutsch auf, erhielt eine humanistische Erziehung und zeigte früh großes Interesse an Sprachen, Naturwissenschaften und Musik. Später zog die Familie nach Warschau, wo sie 1884 das Zweite Frauengymnasium besuchte, welches nur in Ausnahmefällen polnische, noch seltener jüdische Mädchen aufnahm und in dem nur Russisch gesprochen werden durfte. Aufgrund dessen schloss sie sich einer marxistischen Gruppe namens „Proletariat“ an, bei der sie erstmals mit den Schriften von Karl Marx in Kontakt gekommen ist. Das Abitur schloss sie als Klassenbeste ab, musste aber aufgrund ihrer politischen Tätigkeiten in die Schweiz flüchten.

Während sie in Zürich studierte und promovierte kam es auf dem Züricher Kongress der Zweiten Internationalen 1883 zu einem Eklat. Rosa, die zu dieser Zeit Teil der Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP) gewesen ist, kritisierte öffentlich die Polnische Sozialistische Partei (PPS) als es darum ging, wer Polen im internationalen sozialistischen Bund vertreten solle. Sie warf der PPS vor allem vor, bürgerlichen Nationalismus mit Sozialismus zu vermischen. Das hatte zur Folge, dass ihre Delegation ausgeschlossen wurde, machte sie aber gleichzeitig international bekannt. Schon hier zeigte sich früh, Rosas kompromisslose Haltung nationalistische Bestrebungen im Sozialismus abzulehnen. Ihr Leben führte sie später nach Berlin, wo sie der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) beitrat und sich im Revisionismusstreit gegen die Reformer positionierte: „…stellt man die Sozialreform zunächst als Selbstzweck auf, so führt sie nicht nur nicht zur Verwirklichung des sozialistischen Endzieles, sondern eher umgekehrt[5]. Durch ihre Kritik am Militarismus und dem Revisionismus erntete sie viel Anerkennung in der Partei, machte sich aber auch gleichzeitig viele Feinde. Später traf sie bei Reisen nach Russland dortige Marxist*innen, darunter auch Wladimir Iljitsch Lenin, den sie in den Jahren danach mit einigen ihrer Texte inspirierte. Sie landete mehrere Male im Gefängnis und verfasste Texte wie Die Krise der Sozialdemokratie, aus dem u.a. folgender Satz Berühmtheit erfahren hat: „Friedrich Engels sagte einmal: die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei[6]. Auch außerhalb der Gefängnismauern entstanden Schriften wie Sozialreform oder Revolution oder auch Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Mit der Zeit entfremdete sie sich jedoch von ihrer Partei und spätestens als die SPD 1914 den Kriegskrediten zustimmte, emanzipierte sich Rosa. Vorerst nur im Spartakusbund innerhalb der SPD und später als eigenständige Partei, der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die auf Rosas Spartakusprogramm basierte.

Rosa war nicht nur Revolutionärin, Internationalistin und Antimilitaristin, sondern setzte sich für einen Demokratischen Sozialismus ein und lehnte Terror und Diktatur ab. Ihr berühmtester Satz „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden[7] entstand in der Schrift Zur russischen Revolution, in der sie die Bolschewiki nach dem erfolgreichen Sturz der Doppelherrschaft, zwischen der Provisorischen Regierung und des Petrograder Sowjets, kritisierte. Den autoritären Zügen und einer entstehenden Parteidespotie stellte sie ihr Konzept einer sozialistischen Demokratie entgegen. Diese lebe von den schöpferischen Ideen und Aktivitäten der proletarischen Massen. Die erfolgreiche Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft könne nur in einem kollektiven Prozess gestaltet werden: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution[8]. Das sind Positionen für die man heutzutage eigentlich in der autoritären Linken als „links-liberal“ verschmäht wird. Es ist also ziemlich absurd und bizarr, dass ausgerechnet diese Leute, jährlich auf den LL (in leninistischen Kreisen auch LLL genannten) Demos mit Transparenten von Rosa neben denen von Trotzki oder Lenin marschieren. Rosa Luxemburg war ideologisch von Lenin mindestens genauso weit entfernt, wie zur damaligen SPD.

Hinzu kommt, dass Rosa, die zwar selten über ihre jüdische Herkunft sprach und sich auch weniger als Teil des jüdischen Kollektivs betrachtete, sich schon immer gegen den Antisemitismus auch in der politischen Linken ausgesprochen hat. Polnische Nationalisten und Antisemiten warfen Rosa Luxemburg vor, sie führe den „jüdischen“ und internationalistischen Teil der Sozialdemokratie an. Sie behaupteten, dieser Teil wolle Kongresspolen zerstören und das Judentum sei schuld am Sozialismus. Rosa Luxemburg schaffte es jedoch, dass wichtige westeuropäische Sozialdemokraten wie Jaurès, Bebel und Kautsky diese antisemitischen Aussagen ablehnten. Sie verurteilten den Antisemitismus als eine Ideologie des reaktionären Bürgertums[9]. Als sich 1910/1911 Mitglieder der PPS an einer antisemitischen Hetzkampagne beteiligten, sah Rosa Luxemburg den Grund dafür im Nationalismus dieser Strömung. In der polnischen Zeitschrift Czerwony Sztandar (Rote Fahne) schrieb sie zugespitzt, man könne kein Sozialnationalist sein, ohne Antisemit zu sein. Ihrer Auffassung nach trete die Pestflut des Antisemitismus weltweit immer gemeinsam mit dem Nationalismus auf[10].

Doch was genau hat es mit ihrem angeblichen Antizionismus auf sich? Was stimmt ist, dass sie über zionistische Bestrebungen nur spotten konnte. 1918 schrieb sie in einem Text: „Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. […]Zionisten errichten schon ihr Palästina-Ghetto, vorläufig in Philadelphia[11]. Anders jedoch als bei den russischen Bolschewiki, die nationalistische Bestrebungen befürworteten, völlig egal ob sie sozialistisch oder bürgerlich gewesen sind, den Zionismus aber jedoch explizit ablehnten (anders als die chinesischen oder arabischen Nationalbewegungen), hatte Rosa schon vor dem Ersten Weltkrieg die Idee einer „nationalen“ Befreiung scharf kritisiert[12]. Sie hatte also nicht explizit etwas gegen den jüdischen Nationalismus, sondern etwas gegen Nationalismus an sich. Rosa war mit dieser Haltung jedoch nicht allein. Es gab zu dieser Zeit sehr viele jüdische Antizionist*innen. Viele scheinen es vergessen zu haben, aber vor dem Zweiten Weltkrieg war die Konfliktlinie Zionismus vs. Antizionismus eine zutiefst jüdische Debatte. Eine ausführliche Analyse dieses Sachverhalts verdient jedoch einen eigenen Artikel, nur so viel sei gesagt: Es gab nicht wenige marxistische Antizionist*innen, die nach der Shoah die Notwendigkeit eines jüdischen Staates als Schutzraum für jüdisches Leben als zutreffend erachteten und zumindest von ihren antizionistischen Ansichten abrückten. Dazu gehörten Isaac Deutscher[13], Leopold Trepper oder auch Joseph Berger.

Rosa Luxemburg wurde zusammen mit Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 von Freikorpssoldaten erschossen und anschließend ihre Leiche in den Landwehrkanal geworfen. Wir können also nicht wissen, welche Einstellungen sie zum Zionismus nach der Shoah gehabt hätte. Wer in Rosa Luxemburg eine Antizionistin erkennt, weil sie gegen jeglichen Nationalismus gewesen ist, könnte in ihr ebenfalls auch eine Antideutsche sehen, weil sie Antisemitismus in der politischen Linken kritisierte. Das soll nicht heißen, dass Rosa automatisch eine Verfechterin des zionistischen Projekts geworden wäre, aber basierend auf den Biographien anderer, wäre es nicht verwunderlich, dass auch sie zu dem Entschluss hätte kommen können, dass ein jüdischer Schutzraum die größte Katastrophe des jüdischen Volkes verhindert hätte. Rosa stritt für eine bessere Welt. Sie hat sich aus einer partikularen Herkunft für den Universalismus eingesetzt und dadurch viele weitere jüdische Sozialist*innen inspiriert. Für mich, eine zutiefst jüdische Eigenschaft. Wir haben so viele starke jüdische Frauen in unserer jahrhundertelangen Geschichte. Wie schön, dass auch Rosa Luxemburg dazu zählt. Für viele ist sie eine sozialistische Märtyrerin, aber für uns bleibt sie auch einfach nur unsere Rosa. Es wird Zeit, dass wir sie wieder für uns reclaimen!


[1] Popp, Thomas in der Jungle World: https://jungle.world/artikel/2013/02/der-bruch-muss-krachend-sein

[2] Instagram Account “kommunistischeorganisationde“ zur LL-Demo  https://www.instagram.com/p/DEvKTl5sEJW/?img_index=1

[3] Instagram Account von der DKP Berlin zur LL-Demo

https://www.instagram.com/p/DExkSVsstnA

[4] Piper, Ernst: Rosa Luxemburg. Ein Leben, S.31

[5] Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution?, S.29

[6] Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, S.20

[7] Luxemburg, Rosa: Zur russischen Revolution, S.94

[8] Luxemburg, Rosa: Zur russischen Revolution, S.97

[9] Vgl. Talmon, Jacob: Die Geschichte der totalitären Demokratie Band III. Der Mythos der Nation und die Vision der Revolution: Die Ursprünge ideologischer Polarisierung im zwanzigsten Jahrhundert, S.272

[10] Vgl. Kistenmacher, Olaf in der Jungle World: https://jungle.world/artikel/2025/02/ll-demo-luxemburg-sozialismus-oder-nationale-befreiung 

[11] Luxemburg, Rosa: Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution. In: Dies: Gesammelte Werke Bd.4., S.367

[12] Vgl. Kistenmacher, Olaf: Gegen den Geist des Sozialismus« Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, S.92

[13] Vgl. Bergmann, Theodor: Isaac Deutscher — ein jüdischer Ketzer im Kommunismus, S.106