Dicke Luft – Yom HaAtzmaut 2025

von Lien Droste

Standort: Givat Tzarfatit, Ostjerusalem

Ich öffne das Fenster, der stechende Geruch von Rauch kommt mir entgegen. 
Komisch, ist es nicht ein bisschen früh zum Grillen? Ich schließe das Fenster und setze mich an den Schreibtisch. 

Die letzten 8 Monate haben mich verändert – beginnend mit dem Intensiv-Hebräischkurs als Vorbereitung auf mein Studium auf Hebräisch. Als ich vor über einem Jahr nach Israel kam, hätte ich es niemals für möglich gehalten, irgendwann auf Hebräisch studieren zu können.  Und plötzlich verstehe ich nicht nur die Menschen, sondern auch die Sprache. Als wäre mir eine neue Stimme gegeben worden.

Übergänge

Ich blicke zurück auf eine ereignisvolle Woche.
Der Übergang von Yom HaShoa, im Gedenken an die Opfer des Holocaust, zu Yom HaZikaron, im Gedenken an die Opfer von Terror und der gefallenen Soldaten Israels. Ich denke an die Geschichte Israels, voller Selbstbestimmung, Resilienz und Überleben.

Akuter und chronischer Stress im Dauerzustand
“!אין עצמאות עד שכולם חוזרים” in gelber Schrift auf schwarzem Poster reißt mich zurück in die harte Realität.
“Es gibt keine Unabhängigkeit bis alle zurückkehren.“, ein klarer Verweis auf die noch verbleibenden Geiseln in Gaza.
Ich erinnere mich an die Worte der Psychologie Dozentin diese Woche: “Akuter und chronischer Stress“. Israel befindet sich im chronischen Stress.”  Es ist ein Dauerzustand. Und trotzdem geht das israelische Leben unaufhaltsam weiter.

Sirenen

Eine flache Sirene, die “Tzafira”, erklingt, steigt auf und bleibt für 2 Minuten. Der flache Ton hält inne. An Yom HaShoa, zu Beginn und am Mittag von Yom HaZikaron. Ganz Israel steht still. Nicht zu verwechseln mit der “Azakah”, der Sirene bei Raketenalarm.

Echten “Tzabras”, Menschen, die in Israel geboren und aufgewachsen sind, ist dieser Unterschied von klein auf bewusst.

Während ich als “Olah Chadasha”, neue Einwanderin, beide Male in den Schutzraum hechte. Das ist einfach zum Reflex geworden.
Allein beim Klang einer Sirene pocht mein Herz bis zum Hals. An den Dauerzustand kann ich mich einfach nicht gewöhnen.

Grauer Himmel

Eine Nachricht einer Freundin: “Was ist los? Sag mir bitte Bescheid, dass du in Sicherheit bist.”

Ich öffne Instagram und sehe Bilder und Videos von brennenden Autobahnen. Zwischen Beit Shemesh und Jerusalem hat sich ein großes Feuer entfacht. Ich stehe auf und blicke aus dem Fenster hinauf in den grauen, rauchigen Himmel. Sofort google ich die neuesten Nachrichten.

Unzählige Menschen müssen ihre Häuser verlassen. Ein Mann wurde auf Verdacht von Brandstiftung festgenommen.
Wütende Videos auf Tiktok und Instagram überfluten meine Social Media Kanäle. Sie lassen sich über die mutmaßliche Terrorkomponente der Brandstiftung aus. Für einige ein weiterer Beweis, dass es niemals Frieden geben wird, für andere ein Zeichen Gottes für das baldige Kommen des Messias. Für mich ist es einfach nur schrecklich, ganz ohne Interpretation der politischen Lage. 

In den Kommentarspalten lese ich schadenfreudige Kommentare von anti-Israelischen Accounts. 

Ich kann es nicht weiter ertragen, schalte mein Handy aus und frage mich: Wann endet dieser Krieg endlich? 

Ein Funken Hoffnung

Erst am nächsten Morgen schalte ich das Handy wieder an. Widerwillig öffne ich Instagram.
Der erste Beitrag, auf den ich stoße, gibt mir etwas Hoffnung:
Eine gemeinsame Gedenkzeremonie von israelischen und palästinensischen Familien, die zusammen Opfern von Terror gedenken. Was für eine schöne Idee. Während ich mir die Kommentarspalte erspare, träume ich von Koexistenz und Frieden.

10:40 Uhr, mein Whatsapp-Postfach platzt vor Nachrichten aus Gruppenchats: alle Yom HaAtzmaut Aktivitäten sind abgesagt. – Grillen ist verboten.

Mist! Seit Wochen freue ich mich auf das gemeinsame Grillen mit der Studentenorganisation im Park. Ich schreibe meiner Freundesgruppe, vielleicht lässt sich doch noch spontan etwas organisieren. Aber alle Supermärkte und Geschäfte haben heute geschlossen.

Das Grillen fand dann doch statt. Trotz der Achterbahn der Gefühle der letzten Tage bleibt uns nichts anderes übrig, als einfach das Beste aus dem Tag zu machen. 

Das Beste daraus machen, seit 572 Tagen.