von Ron Dekel
Was von der Staatsräson übrig bleibt
Die deutsche Politik spricht oft von der „Staatsräson“, wenn es um Israels Sicherheit geht. Spätestens seit Angela Merkels berühmter Nennung des Begriffs in der Knesset 2008 gehört das Bekenntnis in Teilen der deutschen Parteienlandschaft zur politischen Pflicht . Doch was bedeutet diese Formel konkret und wird sie auch eingelöst?
Aktuell sorgt eine Äußerung von Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, für Diskussion. Er sagte, es könne nicht deutsche Staatsräson sein, „die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern“. Diese Aussage, die man bisher eher aus antikolonialen, linken Kreisen kannte, bricht mit dem bisherigen Konsens und wirft die Frage auf, was von der deutschen Staatsräson überhaupt noch übrig ist.
Ursprünglich geht der Begriff auf die politische Theorie Machiavellis zurück: Ein Staat müsse alles tun, um sich selbst zu erhalten. Moralische oder völkerrechtliche Schranken spielten dabei keine Rolle. Natürlich ist ein solches Denken schwer vereinbar mit einer heutigen Außenpolitik, die sich auf Menschenrechte und internationale Normen beruft. Und doch: Der Begriff scheint eine Renaissance zu erleben.
Angela Merkels Rede von der Staatsräson war eine Zäsur, doch sie blieb, wie so oft in der deutschen Politik, im Vagen. Welche konkreten Verpflichtungen ergeben sich daraus? Welche politischen, diplomatischen oder gar militärischen Schritte sind Teil dieser Staatsräson? Statt Antworten gibt es vage Appelle – etwa, den Iran an seinem Atomprogramm zu hindern. Ein Appell also gegen die ultimative Zerstörung des jüdischen Staates.
Was folgt, ist ein Ausweichen auf symbolische Ebenen. Die Verteidigung jüdischen Lebens in Deutschland rückt ins Zentrum – sichtbar, greifbar, aber vor allem: innenpolitisch nutzbar. Schutzversprechen, Antisemitismuskampagnen, Gedenkreden. Alles wichtig. Aber nicht gleichzusetzen mit einer realen Sicherheitspolitik gegenüber Israel. Selbiges ist auch von anderen Politiker:innen deutscher Parteien zu sehen: Auch nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas am 07. Oktober sind konkrete Aktionen in dieser Hinsicht selten.
Tatsächlich wirkt es, als richte sich die Staatsräson mehr nach innen als nach außen. Sie sichert weniger Israels Existenz als Deutschlands Selbstbild. Die Staatsräson ist damit längst nicht mehr nur eine Verpflichtung gegenüber Israel, sondern ein Baustein deutscher Legitimation. Wie der frühere Botschafter in Israel, Rudolf Dreßler, schreibt: „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.“ Somit folgt die deutsche Staatsräson letztendlich doch dem Denken Machiavellis: Sie dient dem eigenen Überleben, indem sie dem deutschen Staat eine moralische Legitimationsgrundlage verleiht.
Diese Einsicht ist unbequem, aber notwendig. Denn sie entlarvt das vermeintlich moralische Versprechen als das, was es politisch vor allem ist: ein strategisches. Umso dringlicher ist die Frage, die sich nach dem 07. Oktober besonders aufgedrängt hat: Was sind wir bereit zu tun, wenn es ernst wird?
Wenn Felix Klein daher die Ausgestaltung der deutschen Staatsräson zur Diskussion stellt, ergibt sich die Frage, worin genau diese Ausgestaltung besteht, insbesondere dann, wenn sie keine konkreten Maßnahmen oder Schritte zur Sicherung der israelischen Sicherheitsinteressen umfasst.
Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, bleibt die Staatsräson, was sie derzeit ist: ein großes Wort – mit wenig Inhalt.