von Chiara Lipp mit Gedanken von Rachel Bloch
„Pessach – das Fest der starken Frauen“. Dies war der Titel des ersten Artikels für meine Kolumne vor knapp einem Jahr. Damals schrieb ich über Yocheved, deren Namen ich tragen darf und die für mich das Symbol von jüdischem Feminismus und Resilienz darstellt. In diesem Jahr möchte ich mich allerdings auf eine andere Frau konzentrieren, ihre Tochter Miriam.
Miriam, die Schwester von Mosche und Aron, gilt als eine der bedeutendsten Frauen in der Tora. An mehreren Stellen wird ihre Stärke und Widerstandsfähigkeit deutlich. Beispielsweise spielte sie eine Schlüsselrolle, als sie Mosche als Säugling vor dem abscheulichen Befehl des Pharaos rettete, indem sie seinen Korb auf dem Nil beobachtete und dafür sorgte, dass ihre Mutter als Amme für ihn ausgewählt wurde. Durch diesen Einsatz rettete sie ihrem Bruder, der das Volk Israel später als wichtigster Prophet durch die Wüste führen würde, das Leben. In ihrer Rolle als eine der sieben Prophetinnen war sie von großer Bedeutung in der spirituellen Führung der Israeliten während eben dieser so herausfordernden Wüstenwanderung.
Doch nicht nur seit Debbie Friedmans Lied „Miriam’s Song“ aus dem Jahre 1989 steht sie für viele, vor allem für eins: Das Lied am Schilfmeer.
Das Lied am Schilfmeer, auch als Miriams Lied bekannt, wird im Anschluss an den Durchzug durch das Schilfmeer angestimmt. Nachdem Mosche, mit der Hilfe von Haschem, das Rote Meer geteilt hatte, gelang es dem jüdischen Volk, vor den herannahenden ägyptischen Verfolgern zu fliehen, während die Wellen die ägyptische Armee verschlangen, als diese die Verfolgung aufnahmen. Miriam sang ihnen vor: „Singt dem Herrn, denn hoch erhaben ist er; Ross und Reiter warf er ins Meer.“ (Exodus 15,21). Dieser Abschnitt ist Teil eines größeren Lobliedes, das die Stärke und Macht des Ewigen preist und von Hoffnung und Dankbarkeit geprägt ist. Teile davon werden bis heute in das tägliche Morgengebet eingebettet. Dieses Lied wird als eines der ältesten Beispiele hebräischer Poesie betrachtet und illustriert auch die Rolle von Musik und Tanz als Ausdrucksmittel des Glaubens.
Die Kraft und enorme Bedeutung von Musik ist untrennbar mit dem Judentum verbunden und zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte. Seit tausenden von Jahren begleitet sie das jüdische Volk durch Höhen und Tiefen und verbindet uns, egal aus welchem Land wir kommen, welche Sprache wir sprechen oder welcher Denomination wir angehören. Sie spendet Trost, Geborgenheit, gibt Kraft und vereint uns in Freude. Während jedes Kabbalat Schabbat G-ttesdienstes oder jeder legendären Party auf dem Jugendkongress, alle stimmen dieselben Lieder an, kennen die Texte und feiern sie.
Um diesem Thema gerecht zu werden, würde ich nun gerne einer meiner engsten Freundinnen das Wort geben. Rachel Bloch, ursprünglich aus Givatayim, studiert in Würzburg Musik mit dem Schwerpunkt Querflöte und vereint für mich die Liebe zur Musik sowie feministischen und jüdischen Themen. Hier sind ihre Gedanken:
„Ich stehe fest in meiner festlichen Militäruniform, meine Flöte in den Händen. Es gibt keine Bühne, kein Spotlight. Genau das Gegenteil – es ist so dunkel in diesem großen Raum. Das einzige Licht stammt vom Ner Tamid, dem Ewigen Licht. Auf dem Boden, die Namen von 22 Konzentrationslagern. Ich bin zusammen mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen des israelischen Militärorchesters in Yad Vashem. Und wie vor jeder Zeremonie denke ich mir: „Was für einen komischen Militärdienst ich mir doch ausgesucht habe… Ach, Cheli. Es gibt Leute, die wirklich etwas Sinnvolles für die Zahal machen. Und was mache ich? Ich spiele ein paar Lieder, hole mir mein Mittagessen und das wars.“
Aber dann sehe ich die Gesichter der Menschen im Publikum, die von der Fackel des Ner Tamids leicht beleuchtet werden. Ich sehe, dass einige eng beieinanderstehen und sich umarmen. Manche weinen. Doch vor allem singen so viele mit.
„Und wenn du fährst, wohin? Die Ewigkeit ist nur Asche und Staub…“. Wahrscheinlich eines der schönsten Lieder, die bei Holocaust-Zeremonien in Israel gespielt werden: Jehuda Polikers „Asche und Staub – אפר ואבק“. Und genau in diesen Momenten verstehe ich meine Rolle als Musikerin. Kein Beitrag, kein Politiker mit seinen schönen Worten, kein Bild oder Zeichen kann all unsere tiefen Gefühle so schnell und intensiv vermitteln und hervorbringen wie die Musik.
Neben den persönlichen Gefühlen, die die Musik in uns bewegt, gibt es doch einen Aspekt, der für mich persönlich der stärkste von allen ist: die Erkenntnis, dass wir nicht allein sind. Durch die Musik verstehen wir plötzlich: Ich bin doch nicht die Einzige, die Schmerz spürt oder Hoffnung findet. Wenn ich ein Lied, ein Stück oder Gebet höre, weiß ich zweifelsohne, dass es nicht nur mich bewegt, sondern so viele andere Menschen, manchmal sogar über Generationen und Jahrhunderte hinweg.“
Mit diesen Worten möchte ich meinen Artikel beenden und dazu ermutigen, die Pessachlieder in diesem Jahr besonders laut mitzusingen und immer daran zu denken, dass wir, trotz allen Unterschieden, eins sind und zusammengehören.
Am Israel Chai und Chag Pessach Sameach.