Nach den Wahlen gibt es noch ein Leben!

Ein Kommentar von Alexander Tsyterer  

Meine lieben Judis, Allies und Freunde,

wir müssen Tacheles reden. In den letzten drei bis vier Monaten habe ich eine Veränderung in unserer jüdischen Community bemerkt – in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, reden und zuhören. Diese Veränderung bewegt mich und ich möchte meine Gedanken und Gefühle mit euch teilen: meine Ängste, aber auch meine Hoffnungen.  

Der wilde Osten und seine Herausforderungen

Schon zu Beginn des Bundestagswahlkampfs hatte ich die Befürchtung, dass uns die Ergebnisse nachhaltig beschäftigen würden. Leider hat sich diese Befürchtung bewahrheitet. Von einem Tag auf den anderen erwachte ich in einem dunkelblauen Ostdeutschland – in einer Region, in der rechtsextreme Esoteriker, Verschwörungstheoretiker und rückwärtsgewandte Kandidaten und Kandidatinnen in den Bundestag gewählt wurden.  

Schon vorher habe ich im Alltag oft mit Menschen zu tun gehabt, die mir nicht gerade wohlgesonnen waren. Linksalternative mit bunten Kufiyas und öko-marxistischer Weltanschauung oder militärisch frisierte junge Männer in Fred-Perry-Uniformen prägen das Stadtbild und beeinflussen meine Gemütslage, wenn ich durch die Straßen gehe. Dieses Problem besteht nicht erst seit gestern.  

Und ja, ich muss es zugeben: Ich habe Angst. Angst vor den Entscheidungen, die in den Parlamenten getroffen werden. Angst vor der zunehmenden Gewalt und Radikalisierung auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Wenn Neonazis in Berlin aufmarschieren, dann leben ihre Anhänger direkt in meiner Nachbarschaft.  

Trotzdem verspüre ich keinen Drang, mich zu verstecken oder auszuwandern. Im Gegenteil – wie meine Freundin und Kollegin Yael von Hillel einmal treffend in einem Interview sagte: „Erst recht bleiben wir hier!“ Vielleicht bin ich Schmock im Kopf oder naiv, aber ich habe gute Gründe, warum ich genau hier bleibe.  

In einer Mischpacha (Familie) wird gestritten – und das ist auch gut so

Vielleicht wissen es einige von euch: Ich bin Mitglied der CDU und der Jungen Union und war dort lange aktiv. Innerhalb und außerhalb der Partei habe ich eine Kultur erlebt, die stark auf Abgrenzung basiert: **„Wir gegen die anderen“** – gegen die „linksgrünen Gutmenschen“, gegen „Brokkoli-Kiffer“ und so weiter. Diese ständige Gegnerschaft hat mich irgendwann einfach nur noch ermüdet.  

Als ich dann begann, mich in den Strukturen der JSUD zu engagieren und JAM (Jüdische Allianz Mitteldeutschland) im Osten Deutschlands aufzubauen, erfüllte sich ein Traum, den ich nie für möglich gehalten hätte. Plötzlich arbeitete ich mit Menschen aus allen politischen und religiösen Spektren zusammen – mit Marxisten, Antideutschen, Konservativen, Liberalen (sowohl religiös als auch politisch), Sozialisten, Masorti und Orthodoxen.  

Diese Vielfalt ist nicht immer einfach. Wo so unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen, kommt es zwangsläufig zu Reibungen und Konflikten. Daraus entstehen Lager und diese beginnen sich zu bekriegen. Genau das möchte ich aber nicht erleben.  

JAM ist im Kleinen das, was die JSUD im Großen ist: ein Raum, in dem wir unsere Ängste und Hoffnungen teilen und uns gegenseitig mit Empathie begegnen können. Egal, ob es um die Angst vor politischem Extremismus, Antisemitismus oder internationalen Konflikten geht – wir hören uns zu, nehmen die Sorgen ernst und versuchen, gemeinsam etwas Positives daraus zu gestalten.  

Denn genau darum geht es in einer Mischpacha: Man streitet, man diskutiert, man ist nicht immer einer Meinung – und genau das ist auch gut so.  

Kol Ha’olam Kulo und „Alles wird gut“…  

Wenn ich an unsere aktuelle Situation in Deutschland denke, gehen mir zwei Lieder nicht aus dem Kopf. Das eine ist ein hebräisches Lied, das wir oft am Schabbat singen: „Kol Ha’olam Kulo“. In dem Lied heißt es, dass die ganze Welt eine schmale Brücke sei, voller Gefahren und Unsicherheiten. Aber wir sollen mit Zuversicht und Vertrauen darüber gehen – ohne Angst.  

Das zweite Lied ist von Felix Kummer, dem Chemnitzer Musiker von Kraftklub. Ja, eine Werbung für Chemnitz und Kulturhauptstadt 2025 muss nicht vergessen werden. 😀 Der Song „Alles wird gut“ beschreibt auf eine schonungslose Art die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unserer Zeit – und doch endet er mit einer hoffnungsvollen Botschaft:  

„Ich wär‘ gerne voller Zuversicht,  

Jemand, der voll Hoffnung in die Zukunft blickt,  

Der es schafft, all das einfach zu ertragen.  

Ich schau‘ dich an und würd’ dir eigentlich gern sagen:  

Alles wird gut.  

Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch,  

Aber alles wird gut.  

Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt,  

Aber alles wird gut.  

Dein Leben liegt in Scherben und das Haus steht in Flammen,  

Aber alles wird gut.  

Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut.“

Meine lieben Judis, Allies und Freunde, die Zeiten ändern sich. Neue Antisemitismusformen und neue Herausforderungen kommen auf uns zu. Aber eine Sache bleibt konstant: Wir müssen die Welt retten – und dafür brauchen wir die Stärke und den Zusammenhalt unserer Community.  Nicht durch die Achdut(Einheit) der Meinung und des Glaubens werden wir den Sturm überstehen, sondern durch die Einheit und die Werte unserer Community können wir unsere Ziele erreichen.

Nach den Wahlen, egal ob bei der Bundestagswahl oder bei der JSUD, ist nicht alles vorbei. Nach den Wahlen gibt es noch ein Leben!