10/12/24
Auch wenn der Jahrestag des 7. Oktobers schon etwas her ist, sind die Gedanken unserer anonymen Quelle weiterhin aktuell.
TRIGGERWARNING: DEATH AND WAR
Diese Textausschnitte stellen eine Momentaufnahme dar, eine Verschriftlichung flüchtiger Gefühle und Gedanken. Texte wie diese schreibe ich wie einen Wasserfall, unreflektiert, unhinterfragt, in klaren, schnellen Strömen. Wenn ich sie am nächsten Morgen lese, empfinde ich vielleicht schon etwas anderes. Manchmal ärgere ich mich über meine Wortwahl. Trotzdem möchte ich diese Texte mit euch teilen.
11.03.24
Vor ein paar Tagen habe ich einen Traum gehabt. Ich habe geträumt, dass ich in ein Land einreisen muss. Es war aber keine richtige Behörde, es sah nicht so offiziell aus eher wie ein Flughafen. An der Wand hing die Geschichte des Landes in Form von Bildern und Geschichten. Die Frau, die an dem Einreiseband saß, war lustig drauf und scherzte mit mir. Irgendwann stand sie auf und wollte mir an der Wand mit den Geschichten etwas zeigen. Sie fragte mich: „Wollen Sie auch mal auf einer Bühne stehen?“ und dann zeigte sie mir eine Abbildung in schwarzweiß, auf der abgemagerte Körper auf einer Art Schafott standen oder hingen. Es war eine Aufnahme aus der Shoah. Die Person lachte und deutete darauf. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und wusste gar nicht mehr, was ich sagen soll. Ich war auch sauer und habe sowas gesagt wie: „Ist Ihnen klar, dass das für einige Menschen traumatisierend sein kann?“. Als ich aufgewacht bin, hatte ich ein ganz seltsames Gefühl. Ich war verletzt durch das Verhalten der Person am Einreiseband. Gleichzeitig wusste ich, dass sie mit mir scherzen wollte und dass sie nicht wusste, dass mich ihre Bemerkung verletzt. Es war nicht absichtlich, sie war einfach lustig drauf. Es war aber gar nicht lustig.
19.03.24
Auf der JuKo im Februar gab es einen freien Zeitraum zwischen zwei Programmpunkten und ich stand unter der Dusche. Ich wusste, dass die komplette Straße voll mit Polizeiwagen steht, dass es mehrere große Tische nur mit Sicherheitsmitarbeitenden gibt, aber trotzdem waren in diesem ganzen Gebäude hunderte jüdische Menschen auf einem Fleck. Ich stand unter der Dusche und habe laut Musik gehört. Plötzlich habe ich Panik bekommen, weil ich mir vorgestellt habe, wie Terroristen in das Zimmer stürmen. Ich hatte das große Bedürfnis, die Musik auszumachen und zu lauschen, ob draußen jemand ist. Ich habe mich auf einmal so verletzlich gefühlt, alleine, nackt unter der Dusche und diese Vorstellung von bewaffneten Terroristen, Männern, die mir etwas antun könnten, war sehr präsent in meinem Kopf. Ich habe mich eine Zeitlang sehr unwohl gefühlt, obwohl die
Dusche normalerweise eher ein Wohlfühlort für mich ist. Ich habe gedacht, dass es am 7. Oktober bestimmt auch Frauen gab, die zu diesem Zeitpunkt unter der Dusche standen. Ich hatte diese Szene vor Augen und hatte viel Angst. Obwohl ich wusste, dass es unbegründet war. Nach einigen Minuten ging das Gefühl und die Vorstellung weg. Ich hatte dann trotzdem das Bedürfnis, mich einzurollen, ganz klein zu machen und zu verstecken.
Ein ähnliches Gefühl in viel kleinerem Ausmaß hatte ich an Jom Kippur letztes Jahr. Ich saß im Foyer der Synagoge direkt gegenüber der Schleuse und habe auf jemanden gewartet. Plötzlich fiel mir ein, dass das im Falle eines Anschlags einer der gefährlichsten Orte in der Synagoge ist. Ich habe mich unwohl gefühlt, dort zu sitzen und bin aufgestanden und woanders hingegangen. Das Gefühl bei der JuKo war aber viel stärker und dauerte auch länger. Vielleicht war es dieses besondere Gefühl von Verletzlichkeit, das so stark kontrastierte mit dem Bild bewaffneter Männer in meinem Kopf. Ich fühlte mich in die Situation nicht nur als Jüdin hinein, sondern auch als Frau. Die Vorstellung ist furchtbar.
04.04.24
Warum ist der 7. Oktober so etwas Besonderes in unserer Erinnerung? Er kam nicht überraschend. Hass auf Juden überrascht nicht. Trotzdem traf der Tag tiefer, als es sonst passiert. Normalerweise bei Anschlägen – und es ist bitter, das so zu schreiben: „Normalerweise bei Anschlägen“ – fühlt man eine grundsätzliche Betroffenheit. Wenn man keine der Menschen kennt, wenn es in einem anderen Land passiert – man schafft es irgendwie, sich zu distanzieren. Man trauert, aber man trauert vielleicht weniger persönlich. Hier ist es anders gewesen. Vielleicht war es kein Zufall, dass ich diese Angst vor Terroristen hatte, die in die Dusche stürmen, während ich dort nackt bade. Es fühlt sich an, als wären wir nackt gewesen. Als hätte man uns an der empfindlichsten Stelle erwischt. Frauen, Kinder. Festival-Besucher:innen. Menschen, die in Kibbuzim versucht haben, ein friedliches Leben zu führen. Zivilisten. Vielleicht sind diese Menschen näher an uns dran, auch wenn Israel weit weg ist. Vielleicht können wir uns stärker mit ihnen identifizieren. Wenn ich von der israelischen Regierung spreche, sage ich normalerweise nicht „wir“. Hier drängt sich das „wir“ auf, auch wenn ich keine Israelin bin. Sie wurden nicht als Israelis getötet und als Geiseln genommen, sondern als jüdische Menschen. Dieses Immer-Tiefer-Werden der Wunde, je höher die Zahlen der Getöteten und der Geiseln wurden. Es tut weh, darüber zu schreiben. Es tut weh, sich an den Tag und an die Tage, die Wochen darauf, zu erinnern. Wenn ich zu Demos gehe, dann ist der Schmerz abgeflacht, dünner. Aber er ist immer noch da.
18.04.24
Der Angriff des Irans auf Israel ist irgendwie unbewusst an mir vorbeigegangen. Ich habe registriert: da passiert gerade etwas, es ist wieder mal sehr heftig, es ist irgendwo klar gewesen, dass es passieren würde, es ist dann auch passiert. Ich habe diesmal niemandem geschrieben, niemanden angerufen und gefragt, wie es ihnen geht. Es war natürlich nicht das gleiche Ausmaß wie am 7. Oktober. Es ist soweit gesehen wenig passiert. Es gab, soweit ich weiß, nur eine schwer verletzte Person, aber die meisten Menschen sind unverletzt geblieben.
Ich beschäftige mich in den letzten Jahren mehr und mehr mit meiner jüdischen Identität und mit Antisemitismus. Manchmal frage ich mich, wie das wäre, wenn ich mich weiterhin nicht damit beschäftigt hätte. Dann hätte mich das sicherlich auch nicht so stark berührt. Dann würde ich mich nicht als Teil der jüdischen Community in Deutschland sehen, würde weniger mitbekommen, was jüdische Freund:innen empfinden und erleben. Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich herausfände, dass ich gar nicht jüdisch bin. Im Grunde macht das keinen Unterschied, ich wäre trotzdem als postsowjetische Migrantin aufgewachsen, hätte trotzdem den Geschichtsunterricht aus der Perspektive jüdischer Menschen erlebt, hätte trotzdem Antisemitismus durch meine Mitschüler erfahren. Aus der Beschäftigung mit der jüdischen Identität zehre ich Kraft und Stärke. Auch wenn dadurch der Schmerz und die Trauer steigen. Es fühlt sich gar nicht aufoktoyiert an, sondern so, als wäre es ein natürlicher Teil meiner selbst. Was es auch ist. Ich bin dankbar dafür.
Aber ich frage mich langsam, wann es kippt, wann ich zu viel davon haben werde. Ich frage mich auch, ob beispielsweise das Wegschieben von dem Angriff des Iran eine Art Symptom davon war. Ich lese aktuell kaum Zeitung. Ich habe den Daily Alert Newsletter bestellt, aber ich lese ihn nicht. Lieber lese ich Artikel über die Arbeitsteilung bei Vollzeit arbeitenden Eltern, als mich darüber zu informieren, was in Israel gerade passiert oder welcher Politiker wieder was gesagt hat. Den Krieg in der Ukraine verfolge ich schon lange nicht mehr. Man stumpft ab. Ich distanziere mich. Vermutlich ist das gut und gesund so.
07.05.24
Heute in der Uni gab es mehrere Stände, von einer Krankenkasse, vom Tauschring und vom Urban Gardening. Mitten im Foyer war eine Tafel aufgestellt, die auf die Stände hinwies. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich Befürchtungen hatte, was auf der Tafel draufsteht. Ist es irgendwas Antiisraelisches? Ist es an meiner Uni auch schon so weit, dass die Leute Zelte aufbauen, wie in den USA? Heute morgen kam die Meldung aus meiner alten Universitätsstadt, dass die Studierenden dort auf dem Campus 17 Zelte aufgebaut hätten. Ich bin ehrlich gesagt ganz froh, dass ich nicht mehr dort studiere. Ich hätte wirklich Angst davor, auf den Campus zu gehen, glaube ich. Natürlich steht mir nicht „JUDE“ auf die Stirn geschrieben. Aber ich würde nicht dort hingehen und meine Meinung sagen, dafür hätte ich viel zu viel Angst, vor allem, wenn man alleine ist und dort so viele Menschen sind, die 17 Zelte füllen können. Es macht mir schon Angst, was gerade an den Universitäten in den USA los ist und dass das auch nach Deutschland rüberschwappt. Ich hoffe sehr, dass die Leute an meiner Uni nicht auf die Idee kommen, das auch zu machen.
Ich habe schon gemerkt, dass ich Menschen mit „muslimischem“ Migrationshintergrund anders wahrnehme als früher. Es ist nicht so, dass ich krasse Vorurteile hätte, aber irgendwie fühlt es sich so an, als wäre die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie in ihren Bubbles antiisraelischen Content zu sehen bekommen und auch wenn sie sich vielleicht nicht explizit so positionieren, dennoch eher in die propalästinensische Richtung gehen. Ist das schon „antimuslimischer Rassismus“? Es ist zumindest ein Ressentiment. Bei den Kommiliton:innen, von denen ich weiß, dass sie aus arabischsprachigen Ländern kommen, frage ich mich manchmal, wie sie dazu stehen. Hatte ich früher ein Grundvertrauen in meine Mitmenschen à la „grundsätzlich sind doch sicherlich alle positiv gestimmt und warum sollte mir jemand negativ begegnen“, so hat sich das in den letzten Monaten deutlich gewandelt.
Ich fühle mich unwohl dabei, das zuzugeben. Aber es hat sich wirklich etwas bei mir verändert. Ich würde jetzt erst recht nicht von meinem jüdischen Hintergrund auf einer Party erzählen. Das stört mich, ehrlich gesagt. Ich verlange Aufklärung gegen Antisemitismus und kann selbst nichts gegen meine eigenen antimuslimischen Ressentiments machen. Natürlich hat das einen Grund. Aber es fühlt sich nicht gut an, ich möchte gerne allen Menschen mit dem gleichen Respekt und mit der gleichen Toleranz begegnen, vor allem, wenn ich sie gar nicht wirklich kenne und nicht weiß, wie sie denken.
Bei vielen Kommiliton:innen weiß ich, dass sie aktiv in der linken Szene sind und etwa das AZ in unserer Stadt besuchen. Früher war ich dort häufiger und es hat auch Spaß gemacht, mit anderen Leuten eine Gastroschicht dort zu machen. Aber ich würde das heute nicht mehr tun. Ich würde dort heute nicht mehr ruhigen und ausgelassenen Herzens hingehen. Ich habe auch antilinke Ressentiments.
Vielleicht ist das irgendwo natürlich, wenn man die ganzen Nachrichten liest, über Linke und Menschen aus arabischsprachigen Staaten und die Demos hier in Deutschland. Aber verschanze ich mich nicht auch in meiner Bubble? Bilde ich mir das nicht einfach nur ein? Bevor ich Kontakt zu jüdischen Menschen hatte, hatte ich nicht wirklich diese Gefühle, Ängste und Sorgen. Auch wenn mir Antisemitismus in der Schule begegnet ist, habe ich daraus keine wirklichen Schlüsse über die mich umgebende Welt gezogen, sondern habe das als Ausnahme abgetan – weil das in meinem Leben ja auch wirklich eine Ausnahmesituation war und mir nicht ständig begegnet ist. In der Schulklasse waren wir fünf jüdische Personen, das ist viel und das ist stark und wenn jemand was gegen uns sagt, dann sind wir viele, ein Sechstel der Klasse. Das war mir so nicht bewusst, hat mich aber geprägt. Nach wie vor schreibe ich in Bewerbungen ganz oben rein, dass ich jüdisch bin, weil ich bislang die Vorteile, den deutschen „Schuldbonus“, genieße, ohne dass mir etwas Negatives widerfahren wäre. Ich bewerbe mich natürlich in einem Berufsfeld, wo das Thema Diversität ganz hoch gehalten wird und mir viele Extrapunkte bei der Bewerbung gibt – denn meistens bin ich ja die Einzige und das wollen sich die Unternehmen nicht entgehen lassen, wow, wir haben eine Jüdin gefangen, schaut, wie divers wir sind.
Ich laufe mit einer jüdischen Sicherheit durchs Leben. Wie lange geht das noch gut?
09.06.24
Gestern wurden vier Geiseln lebend befreit. Ich habe mich sehr gefreut, als die Nachricht über alle Portale kam und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich kaum noch daran geglaubt habe, dass noch jemand von den Geiseln lebend da rauskommt. Vor allem, nachdem viele sterbliche Überreste der anderen Geiseln gefunden worden waren. Gestern Abend hat jemand in einer Gruppe aber auch geschrieben, dass nicht nur vier Geiseln gefunden wurden, sondern auch ein Soldat getötet wurde. Einem spontanen Gefühl folgend habe ich für ihn eine Kerze angezündet. Es ist schon was ganz anderes, wenn man von den Geschichten,Familien und Hobbys der Menschen hört und liest. Von Zahlen in Statistiken verwandeln sie sich in echte Menschen, die man vielleicht auch sympathisch gefunden hätte.