Ein Interview mit Antonia Sternberger
EDA: In deinem Buch „Meine deutsche Geschichte“ bezeichnest du dich schon im ersten Kapitel als „deutsch-jüdischen Ureinwohner“. Kannst du mir erklären, wieso?
MG: Ich bin auf den Begriff gekommen, da 2021 ja das Jubiläum von 1700 Jahren Judentum in Deutschland gefeiert wurde und ich als aschkenasischer Jude eben aus dieser Region komme. Als ich dann länger darüber nachgedacht habe, dass das Judentum hier länger existiert als das Christentum, bin ich darauf gekommen, dass wir eigentlich die Ureinwohner dieser Region sind.
EDA: Was war die Motivation, dein Buch zu schreiben? Gab es einen Auslöser?
MG: Ich glaube, es kam einfach sehr viel Persönliches und Biografisches nach Corona, durch den Krieg in der Ukraine, dem 07. Oktober, zusammen. Da war ein Punkt erreicht, an dem ich reflektieren wollte, wie es mir eigentlich die letzten 27 Jahre hier in Deutschland ergangen ist. Wie hat sich dieses Land verändert und wie ich mich mit diesem Land zusammen? Wie haben wir uns gegenseitig geprägt? Ein Buch gibt einfach mehr Raum für Gedanken, für Geschichten und für Reflektionen. Es soll auch ein wichtiger Diskussionsbeitrag und ein Plädoyer für die Zwischenräume sein, die in unserer Gesellschaft verloren gegangen sind, denn das Spannende liegt im „Dazwischen“.
EDA: An wen richtet sich dein Buch? Ist es eher für andere Jüdinnen und Juden mit post-sowjetischem Hintergrund gedacht, oder richtet es sich an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft?
MG: Es ist kein klares Migrantenbuch, aber auch kein klassisches nur „Jewish-Bubble“-Buch, weil es vielmehr Themen anspricht. Was ich von meinen Lesern erwarte, ist eine gewisse Art der Reflektion, der Auseinandersetzung. Insofern kann es also jeder lesen und schauen, warum die Perspektiven meiner Person interessant sein können, und wie sie sich von den eigenen Perspektiven unterscheiden oder auch ergänzen.
EDA: Du beschreibst auch eindrücklich deine Erfahrungen als Migrant, deine Kämpfe mit Behörden und Rassismus. Dabei stellst du fest, dass es in Deutschland an einem „angemessenen Umgang mit Neuankömmlingen“ mangelt. Kannst du diesen Gedanken näher erläutern? Was würdest du dir wünschen, was sich in Deutschland diesbezüglich ändert?
MG: Am wichtigsten ist es, Menschen ernst zu nehmen und auf ihre Charaktere und Fähigkeiten zu gucken, anstatt auf ihre Herkunft allein. Ich habe das Gefühl, dass man entweder bevormundet wird oder einem gesagt wird, dass man gar nichts kann. Das ist aber auch keine Einbahnstraße, denn eine gewisse Art der Empathie gegenüber den Deutschen muss ebenfalls da sein. Ich sage immer: „Deutschland ist kein Disneyland“. Deshalb sind meine Ratschläge an Migranten: Seid fleißig, seid offen für dieses Land, aber versteht die Grenzen. Ich habe auch viel die deutsche Seite kritisiert, von der auch was kommen muss. Stichwort – Sprachfetisch. Muss es denn wirklich sein, dass du für jeden Beruf fließend Deutsch können musst?
EDA: Was ist dein liebstes deutsches Essen?
MG: Ich hatte in den letzten Jahren das Glück, viel in Deutschland gereist zu sein und dabei auch regionale Küche probieren zu können. Am liebsten mag ich Zwiebelbraten. Die Nummer eins bleibt für mich allerdings Brot. Mein Zionismus hat Grenzen und diese Grenzen sind eben beim Brot. Israel hat keine Vollkornbrot-Kultur und das ist in Deutschland einfach auf einem anderen Level.
EDA: In Kapitel 5 gehst du auf jüdisches Leben in Deutschland ein und zeigst auf, dass es in deutschen Städten – anders als in Paris, London, Wien oder Antwerpen – eigentlich keine jüdischen Viertel gibt. In diesem Zusammenhang sagst du, dass, wenn in einem Land orthodoxe Juden nicht sicher sind, das dann auch für alle anderen Juden zutrifft. Sind orthodoxe Juden in Deutschland nicht sicher?
MG: In diesem europäischen Vergleich gibt es wirklich lebende jüdische Viertel, die in deutschen Städten so einfach nicht existieren. Nach dem Holocaust haben wir es noch immer nicht hinbekommen diesen Aspekt wiederzubeleben, den es ja vorher durchaus gegeben hat. Stichwort: Spandauer Vorstadt, wo orthodoxes, osteuropäisches Leben stattgefunden hat. Gleichzeitig wird das Bild des jüdischen Menschen in Deutschland sehr stark dadurch geprägt, sodass ein riesengroßer Widerspruch entsteht. Man redet die ganze Zeit über eine bestimmte Gruppe, die aber in der jüdischen Gemeinschaft eine Minderheit ist und im Straßenbild kaum erscheint.
EDA: Hat sich dein Leben seit dem 07. Oktober, speziell in Deutschland, verändert?
MG: Die gesamte Stimmung, diese Bedrohungslage, diese politisierte Stimmung sind nicht neu. Heute sieht man, wenn man durch Berliner Straßen läuft, z.B. diese roten Dreiecke. Für mich sind rote Dreiecke Symbolik aus dem Nationalsozialismus und heute ein Zeichen der Hamas. Ich empfinde also eine Bedrohungslage, die auch meine Stimmung beeinflusst. Antisemitismus ist immer ein erlebbares Phänomen, kein hypothetisches oder theoretisches.
EDA: Du zitierst Bertold Brecht und Ernst Busch „Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt?“ und du ziehst daraus eine Verantwortung, die jedem obliegt, die Welt ein kleines bisschen mitzugestalten. Ist das eine Message, die du auch so rüberbringen möchtest an deine Leser?
MD: Das war ehrlicherweise wirklich eher an die jüdischen Leserinnen und Leser gerichtet. Ich wollte anregen, zu schauen, wo man was ändern und sich einbringen kann, da jeder von uns Soziale Medien und auch nichtjüdische Freunde hat. Dadurch kann man viele Leute erreichen und über die eigene jüdische Existenz und Präsenz aufklären. Ich verstehe, dass viele diese Identität aus unterschiedlichen Gründen nicht offenlegen wollen, aber trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist, selbstbestimmt aufzutreten und über unsere schöne vielfältige Identität zu reden.
EDA: Inwiefern war das Bild der Deutschen von der Ukraine verzerrt? Was sind die Gründe dafür?
MD: Das ganze Kapitel zur Ukraine ist ein sehr emotionales, da es unter dem Eindruck des Krieges entstanden ist. In der Art und Weise, wie ukrainische Flüchtlinge aufgenommen worden sind, hat man gemerkt, wie wenig Wissen über die heutige Ukraine und wie modern sie gerade im technischen Sinne ist, vorhanden ist. Für viele war die Ukraine gefühlt wie ein Drittes-Welt-Land. Auch durch diese falschen Vorstellungen wurden Neiddebatten ausgelöst. Wie muss ein Flüchtling denn aussehen und dann das Eigenbild, wie der Helfer? Einem Bedürftigen zu helfen ist einfach, einem nicht so Bedürftigen nicht ganz so.
EDA: Denkst du, dass diese Sichtweise auf die Ukraine auch etwas mit anti-slawischem Rassismus zu tun hat?
MD: Ich habe ja anti-slawischen Rassismus im historischen Kontext im Buch beschrieben, um nochmal weiter Sensibilität zu schaffen. Ich glaube, dass das eine grundsätzliche Perspektive auf Osteuropa ist, die von viel Unwissen und Unkenntnis geprägt ist.
EDA: Hat der Krieg in der Ukraine etwas an deinem Verhältnis zu Deutschland oder deiner Sichtweise geändert, insbesondere wenn man sieht, wie Putin teilweise von Politikern und Deutschen unterstützt wird?
MG: Für mich war erstmal ab 2014 interessant, diese ganzen ostukrainischen Städte, die für mich eine Bedeutung haben, jeden Tag im Radio zu hören. Grundsätzlich haben mich diese Pro-Russland-Töne nicht überrascht und auch nicht, dass diese Meinung auf so nährbaren Boden stößt. Vieles liegt auch an der Macht der Bilder. Die Assoziation ist dann, Russland ist gleich Krieg, Krieg ist schlecht und alles dazwischen ist egal. Die Komplexitäten werden ausgeblendet und die Welt wird in einem sehr einfachen Rahmen gesehen.
EDA: Wenn du in die Zukunft blickst: was ist deine Hoffnung für Deutschland und jüdisches Leben in Deutschland in 20 Jahren?
MG: Solange es in Deutschland eine lebendige, eine rechtsstaatliche Demokratie geben wird, ist jüdisches Leben hier gesichert, weil man immer eine Mehrheitsgesellschaft an ihrem Umgang mit Minderheiten misst. Auf dieser Metaebene ist das der Garant für jüdisches Leben auf dem ganzen europäischen Kontinent. Wenn Fanatismus und Extremismus anfangen, Überhand zu nehmen, wird es für die Juden in Deutschland und Europa schwierig, weil das Alltagsleben dadurch so stark geprägt wird, dass es unmöglich sein wird Jüdisch zu sein.
EDA: Warum ist Mut in diesen Zeiten besonders wichtig?
MG: Viele Punkte, die vor zehn Jahren Konsens in unserer Gesellschaft waren, sind heute nicht mehr Konsens. Sie auszusprechen, erfordert gerade leider Mut. Ich hätte vielleicht schreiben sollen, „seid mutig, aber nicht dumm mutig“. Ich verstehe, dass man sich an einer Universität nicht wie Moshe Dajan gegenüber hundert Hamas-Aktivisten aufspielen muss. Dennoch braucht es Mut, um Veränderungen zu bewirken – und in unserem Fall, um Bewährtes zu erhalten.