05/12/24
wie war es für euch, ohne aufzuwachsen?
Alexandra Krioukov, 22, ist Vorstandsmitglied der Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) und studiert Rechtswissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin
Früher habe ich mich nie anders gefühlt.
Mehr als eine Muttersprache – normal.
Zu Hause kein Deutsch – auch.
Eigenes Essen, Freunde von überall – immer.
Jüdisch sein – die Norm.
Kugelsicheres Glas in der Schule, Terroralarmübungen – jährlich.
Kippa wird verdeckt – Security kommt mit, Polizei steht täglich vor der Tür.
Ich mochte die Securitys, sie machten Saltos und spielten mit uns Fußball.
Erst viel später verstand ich, dass an unserer Normalität nichts Norm war. Dass sie uns erkauft wurde, durch kugelsicheres Glas, Security und Polizei. Aufzuwachsen mit Kippot als Normalität hieß auch, aufzuwachsen mit der Normalität, dass Kippot versteckt gehören, sobald wir das kugelsichere Glas hinter uns lassen.
Mittlerweile weiß ich, dass nichts davon normal war. In der 11. Klasse, frisch auf meiner neuen Schule, erfuhr ich, dass es keine Terroralarmübung gibt – nur Feueralarmtraining. Ihre Normalität war, nicht zu wissen, was man im Falle eines Terroranschlags tun sollte. Mein Wissen, was man tun sollte, wurde zum Partytrick, der andere zum Lachen brachte.
Nach und nach wurde mir klar, dass meine Normalitäten jeweils nicht normal waren. Ich kannte es nicht, beweisen zu müssen, dass ich jüdisch bin, auch wenn ich nicht religiös bin. Oder Volkszugehörigkeit und Ethnoreligion zu erklären und mir anzuhören, ob es „problematisch“ sei, uns als eigenständiges Volk zu verstehen, weil das ja die Nationalsozialisten taten.
Plötzlich war es ein Privileg, aufzuwachsen in einer Normalität des kompromisslosen Jüdischseins. Als Freund*innen mir von ihrer „Schule ohne Rassismus“ und dem dort herrschenden blanken Antisemitismus erzählten, verstand ich, wie unnormal es war, die Frage nach Antisemitismuserfahrungen die längste Zeit mit „nein“ beantworten zu können. Bis auch ich das kugelsichere Glas verließ.
Ich habe mich nie unsicher gefühlt. Ich fand Panzerglas normal, und dass wir nicht hinausgehen mit Erkennungsmerkmalen. Dass ich Securitys beim Namen kenne und die Polizei täglich sehe, dass wir Terroralarm üben, besprechen, was passiert, wenn jemand Bomben in unsere Fenster wirft. Das war mir so vertraut, dass ich nie weiter darüber nachdachte, dass es für andere anders sein könnte.
Obwohl mir im Abstrakten bewusst war, dass es Menschen gibt, die mich und uns tot sehen wollen. Für mich war es so normal, dass mir nicht bewusst war, dass andere Menschen diese Bedrohung nicht kennen.
Die Geschichten der Tora sind eine Reihe von Erzählungen, die nur davon handeln, dass jemand uns vernichten wollte, und wir dennoch lebten und daher das Leben feiern. In der Schule lernten wir um die Mittel unserer industriellen Vernichtung und bei Ausflügen war immer klar, dass jemand dabei sein muss, um uns zu schützen. Und doch hinterfragte ich nicht.
Bis zum 7. Oktober. Mit all seiner Brutalität und Grausamkeit reihte sich der 7. Oktober doch in diese absurde Normalität ein. Unser Normal. Die Tatsache, dass sehr viele Menschen auf dieser Welt uns tot sehen wollen. Unsere Entmenschlichung wollen, weil sie uns als unwert ansehen. Dieser Tag ließ Realität werden, was wir lange bloß abstrakt kannten.
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass es Menschen gibt, die aufwachsen, ohne das Wissen, gehasst zu werden. Dass es Menschen gibt, die groß werden, ohne beigebracht zu bekommen, dass immer Menschen denken, es wäre besser, wenn du tot seist. Es ist so offensichtlich, und doch habe ich 21 Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht normal ist, mit dem Gedanken aufzuwachsen, dass andere deine Existenz als ein Problem ansehen. Dass schusssicheres Glas, Polizei und Terroralarm nicht normal sind.
Es war das erste Mal, dass ich mich gefragt habe, wie es ist, nicht jüdisch zu sein. Wie es wäre, aufzuwachsen, ohne das Wissen um ein kollektives Gehasstwerden. Wie es wäre, wenn ein Pogrom, bei dem 1200 Menschen umgebracht, vergewaltigt und entmenschlicht wurden, nicht Teil meiner Normalität wäre.
Wie muss es sein, ohne das Wissen um kollektiven Hass aufzuwachsen? Fühlt man sich mehr als Individuum und weniger als Gemeinschaft? Schätzt man das Leben weniger, wenn man nicht weiß, dass es ein Wunder ist, am Leben zu sein? Teilt man die Welt weniger in Gut und Böse ein oder gerade mehr? Werden menschliche Abgründe weniger schockierend? Gibt es ohne das Wissen um das ewige Verfolgt werden ein Gefühl des Verfolger-Seins seiner Vorfahren oder ist diese Vorstellung einfach nicht präsent? Empfindet man sich als weniger wichtig, wenn einen niemand hasst oder gerade als berechtigter? Hat meine Erziehung, die mir erklärte, dass mich Menschen nicht für das hassen, was ich bin, sondern für das, was sie nicht sind, mich egozentrisch gemacht? Gibt es eine bessere oder andere Möglichkeit, einem Kind zu erklären, warum es immer bedroht sein wird, wie es schon seine Vorfahren waren? Bestimmt. Mussten sich die Eltern meiner deutschen Freunde nie mit dieser Frage auseinandersetzen?
Nie störte es mich, dass meine Normalität nicht die gesellschaftliche Normalität war. Doch dieses eine Mal hätte ich gerne gewusst, wie es ist, anders zu sein.
Ich würde gerne wissen, wie es wäre, wenn der 7. Oktober nicht Teil einer historischen Realität wäre. Wenn Inhumanität nicht Normalität ist. Wie ist es ohne kugelsicheres Glas?
Wenn auch ihr in einem ständigen Wissen einer abstrakten Vernichtungswürdigkeit aufgewachsen wärt, würdet ihr dann verstehen, was für ein Wunder es ist, das erste Mal seit 2000 Jahren einen Staat zu haben, der uns verteidigt? Eine Armee, die für unser Leben und nicht für unseren Tod kämpft? Für uns ist der Vernichtungswille Normalität. Aber, dass wir uns verteidigen dürfen, verteidigen können, das ist das wahre Wunder. Das ist die Anomalie.