Krise, Identität und Heilung

26/07/2024

Jakob Manasherov studiert Psychologie und ist aktiv im Bildungs- und Inklusionsbereich. Sein Migrationshintergrund und die damit verbundene Erfahrung haben das Interesse an gesellschaftlichen und politischen Themen und Perspektiven für die Zukunft geweckt.

Noch eine jüdische Person mit Migrationsgeschichte, die über Identität schreibt. Bis jetzt sollte das Thema doch komplett durchgekaut und verdaut sein? Also, was ist der Beitrag, den ich noch dazu leisten kann? Wie die meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland habe ich eine Migrationsgeschichte. Es ist ein Thema, das die meisten Leser*innen wohl kennen und beschäftigen mag. Hier will ich aber nicht meinen Identitätsfindungsprozess in aller Länge beschreiben, sondern auf einen bestimmten Punkt eingehen, nämlich den Einfluss von Krisen und Konflikten auf die Identität. 

Erstmal zum aktuellen Gefühl, welches den Großteil der jüdischen Community in Deutschland und weltweit wahrscheinlich vereint. Eine gruselige Mischung aus generationellem Trauma und aktuell eskalierenden Verhältnissen, die unsere Generation mit einer historisch jüdischen Erfahrung verbindet. Ein schlafendes (zu oft aufgewecktes) Trauma, das seit dem 7. Oktober komplett erwacht ist und uns Juden wieder daran erinnert, niemals komplett sicher zu sein. Wieder daran erinnert, was es heißt, jüdisch zu sein. Eine derartige Geschichte von Verfolgung und Hass, die uns nicht loslässt und man sich nur eins wünscht: Ruhe und Sicherheit. 

Und in solchen Umständen ist es das Wertvollste, Momente zu haben, in denen wir gemeinsam unsere Identität ausleben, etwas zu viel singen und tanzen. Als jemand, der seit der Kindheit ein zu häufiger Gast auf jüdischen Veranstaltungen ist, war das erste Zusammentreffen mit anderen Juden nach dem 7. Oktober etwas Magisches. Die Stärke und Verbundenheit, die aus einer solchen Krise wachsen kann, ist absolut einzigartig. Wie ein Überlebensmechanismus stärkt es die gemeinsame jüdische Identität und das Selbstverständnis. Ich habe in dem Moment genau darüber nachgedacht, als alle gerade das fünfte „OD AWINU CHAI“ (der Anfang eines jüdischen Liedes)  angestimmt haben und den Jüngeren schon alles juckte, weil sie darauf brennen, gleich einen Moshpit zu starten. Gerade also als alle die Bude einreißen, dachte ich, wie wohl das selbe Gefühl auch Ukrainer*innen vereint. Ihnen wurde so oft instrumental die eigene Identität abgesprochen, um sie an Russland anzubinden. Nun haben sie ironischerweise genau das Gegenteil erreicht von dem, was sie eigentlich vorhatten. Der gemeinsame Widerstand gegen einen klaren Aggressor, der ihnen ihre Identität und ihre Selbstbestimmung berauben möchte, lässt sie noch stärker kämpfen. Es lässt die Ukrainer noch sicherer und selbstbewusster in ihrer Identität und im Wunsch, diese zu verteidigen. Auch dachte ich an die Identität des palästinensischen Volkes. Unabhängig vom aktuellen Konflikt ist es ein Volk, welches auch durch die damaligen Briten und Osmanen fremdbestimmt war. Ein Volk, genau wie das jüdische, welches auch einen Anspruch auf Selbstbestimmung und eine eigene Identität hat. Man darf allen drei Völkern ihre Identität und ihr Recht nicht absprechen, genauso auch allen anderen nicht. Ein Thema, bei dem ich denke, dass nicht genug darüber geredet wird, ist der Heilungsprozess. Wir als jüdische Community trauern, erinnern und reden über das Unrecht und Unheil, das uns widerfahren ist. Wir werden auch aktiv demonstrieren, schreiben, protestieren… wir nutzen alle Kanäle, die verfügbar sind, um etwas zu ändern und ein Zeichen zu setzen. 

Mir fällt auf, dass die Regierungsebene und die Politik teilweise eine gegensätzliche Haltung dazu haben als Teile der Gesamtgesellschaft. Von Politiker*innen erfahren wir Solidaritätsbekundungen, den Schutz jüdischer Einrichtungen. Manch einer und manch eine (auch jüdische Stimmen, die es nicht sollten) werden zu Talkshows mit Politikern eingeladen, um über die aktuelle Lage zu reden. Auch innerhalb solcher Versuche werden viele jüdischen Stimmen nicht oft gehört, unsere Forderungen und Lebensrealitäten hallen zu oft in einer Kammer, wo selten jemand antwortet und unsere Stimmen müde werden. 

Innerhalb der Gesamtgesellschaft wird unser Leid sowie der aufkommende Antisemitismus, der mittlerweile astronomische Dimensionen angenommen hat, nicht gehört. Plakate und Poster aufzustellen mit entführten und als Geiseln gehaltenen Menschen, um auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam zu machen und unsere Trauer auszudrücken, wird uns nicht gegönnt. Ein scheinbar simples unpolitisches Statement, dass solche mörderischen und menschenverachtenden Handlungen nicht hinzunehmen sind, ist für zu viele eine kontroverse Meinung. 

Wir als Jüdinnen und Juden finden kaum Heilung und Anteilnahme von der Gesamtgesellschaft. Der Sicherheitsapparat muss jüdisches Leben schützen, da wir ganz auf uns alleine gestellt, da wir ohne entsprechenden Schutz ein sofortiges Opfer von Gewalt und Hass wären. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, wird mir die Absurdität der Situation bewusst. Es entsteht ebenfalls ein absolut verkehrtes Bild bei einigen Menschen, dass wir uns als besonders aufspielen, da wir beschützt werden. Und es ihre antisemitischen Verschwörungstheorien weiterhin untermauert, als hätten wir Politik und Regierung „in unserer Tasche“. Dabei ist zu sagen, dass die Verantwortung klar zu benennen ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf die Gesamtgesellschaft zuzugehen und einen Dialog aufzubauen. Es ist aber zu oft Realität, dass wir dieser Rolle nachgehen, da es sonst niemand tut. Ich wage jetzt vielleicht eine kontroverse Meinung zu behaupten. Ich denke, dass die Situation für Menschen, die sich mit den palästinensischen Menschen solidarisieren, komplett umgekehrt ist. Ihnen wird nicht dasselbe Ausmaß an Medienpräsenz und politischen Solidaritätsbekundungen gewährt, wie dies bei jüdischen Menschen der Fall ist. Diskussionen werden oft einseitig über die (auch zu vielen) Fälle ausschreitender Gewalt und Hetze auf pro-palästinensischen Demonstrationen geführt. Gemäßigten Demonstrationen oder Veranstaltungen wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt. So dass auch von vielen solcher Stimmen das Gefühl entsteht, dass ihr Leid von ihrer Regierung nicht gehört wird. Das verstärkt das eh schon wachsende Misstrauen gegenüber der Regierung. 

Nun gesamtgesellschaftlich gesehen, zeichnet sich ein anderes Bild ab. Die leichteste Jobbeschreibung der Welt: Nah-Ost-Experte. Alles, was man braucht, ist ein internetfähiges Gerät. Social Media ist voll mit pro-palästinensischen Aktivisten, selbst die Bildungseinrichtungen sind betroffen. In Unis wird nun akademisch Antisemitismus betrieben und die Schulen sind ein wichtiger Schauplatz für antisemitische Vorfälle. Einer mag vielleicht über das echte (wenn es nicht gerade von der Hamas und anderen Akteuren instrumentalisiert und inszeniert ist) Leid palästinensischer Menschen aufmerksam gemacht werden. Bis man nahtlos in einer gefährlichen Rutsche landet. Angefangen mit Leid, dann noch etwas Geschichtsrevisionismus, ein paar antisemitischen Verschwörungen weiter, bis man am Ende der Rutsche zur Intifada aufruft.

Wir sollten weg von einer solchen Art der Gruppenbildung kommen und versuchen, auch Heilungsprozesse miteinander möglich zu machen. Ich denke, die Grundlage dafür ist es erstmal, das Leid der jeweils anderen anzuerkennen und allen Betroffenen den Raum zu bieten, miteinander reden zu können. Radikalisierungsprozesse funktionieren viel besser in Echo-Kammern. Wenn man Gespräche wieder in das Zentrum der Gesellschaft verlagert, wird es hoffentlich weniger dazu kommen. Neben vielen anderen ist ein Problem, dass alles nicht so einfach aus der Perspektive der Regierung ist. Wir als Privatpersonen können gegenseitiges Leid anerkennen, manch einer mag auch aktiv werden und versuchen, etwas zu ändern. Von der Regierung erwartet man aber mehr. Bei einer Anerkennung von Leid und der Bekundung von Anteilnahme sollen auch Taten folgen. Vor allem außenpolitisch entsteht dann schnell die Forderung, bei Anerkennung palästinensischen Leids Konsequenzen in der Politik mit Israel zu ziehen. Dies würde komplett gegen die Konsequenz stehen, aus der Verantwortung Deutschlands durch den Holocaust jüdisches Leben und somit auch einen jüdischen Staat zu schützen.

In meinem Job im Jüdischen Museum hatte ich viele Workshops mit vielen Schulkassen. Oft werde ich von den Lehrer*Innen vorsichtig darauf hingewiesen, „Achtung, einige Schüler*innen waren auf „Pro-palästinensischen Veranstaltungen“. Also ob der Fakt sie zwingend ausschließt das Phänomen des Antisemitismus zu verstehen oder ihnen Teile jüdischen Lebens nahezubringen? Nach meiner subjektiven Erfahrung sind es oft genau die Schüler*Innen, die dafür aufmerksam werden können. Sie haben oft großen Redebedarf, da sie bei ihren Lehrkräften selten offen darüber reden können. Wie auch zuvor beschrieben, versuche ich erstmal ihr Leid anzuerkennen, erwarte aber dasselbe von ihnen. Eine gegenseitige Gesprächsgrundlage und der Versuch, auch nur etwas aufeinander zuzugehen.