Ein Interview mit dem jüdischen Gastronom Uwe Dziuballa aus Chemnitz geführt von Alex Tsyterer
Wie habt ihr in der DDR eure jüdische Identität ausgelebt? War es möglich, offen eine Kippa zu tragen, so wie du es jetzt mit deinem Bruder machst?
In der DDR wurde das jüdische Leben eher zurückgezogen und im privaten Rahmen gelebt. Außerhalb der eigenen vier Wände spielte es gesellschaftlich kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildete das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg: In diesem Zusammenhang wurde das Judentum oft neben dem Kommunismus als Symbol des Widerstands und als Opfer des Nationalsozialismus hervorgehoben. Doch wenn es um Religion oder Israel ging, war die Haltung deutlich distanzierter – die DDR lehnte Israel als kapitalistischen Staat ab und unterstützte stattdessen Persönlichkeiten wie Jassir Arafat, der sogar auf Parteitagen als Ehrengast mit Waffe auftreten durfte. Erst in den letzten Jahren der DDR gab es aus verschiedenen politischen Gründen eine leichte Veränderung in der Haltung, doch das würde hier zu weit führen.
Mein Bruder, Lars Ariel, der in Belgrad geboren wurde, und ich haben unsere frühe Kindheit in Jugoslawien verbracht. Daher hatten wir nur begrenzte persönliche Erfahrungen mit der DDR-Kindheit. In Jugoslawien erlebten wir eine deutlich offenere und entspanntere Haltung gegenüber jüdischem Leben.
Wie kam Deine Familie (du, Ariel, Dagmar alias Rivka) auf die Idee, in Chemnitz ein jüdisches Restaurant zu eröffnen?
Als ich im November 1993 aus den USA zurückkehrte, war ich überzeugt, dass die gedankliche Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland der Vergangenheit angehörte. Gleichzeitig hoffte ich, dass das jüdische Leben in Deutschland nicht mehr nur auf Museen, Gedenktage und Besuche in Konzentrationslagern beschränkt blieb, sondern sich auch im Alltag sichtbar entfalten würde. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
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In Chemnitz entwickelte sich das Leben in der jüdischen Gemeinde zwar positiv, und mit den „Tagen der jüdischen Kultur“ hatte Matthias Wild gemeinsam mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ein wertvolles Konzept geschaffen, um jüdische Kultur für die Stadtgesellschaft erlebbar zu machen. Doch diese Veranstaltungen dauerten nur 14 Tage – danach kehrte der Alltag zurück. Mein Ziel war es, mit sozialer, kultureller und Bildungsarbeit eine dauerhafte Präsenz jüdischen Lebens in Chemnitz zu schaffen.
Unser »SCHALOM e.V.«, den wir 1998 gründeten, bekam keine finanzielle Unterstützung. Nach nur neun Monaten stießen wir bereits an unsere wirtschaftlichen Grenzen. Zudem erreichten unsere Bildungs- und Informationsangebote fast immer dasselbe Publikum. Obwohl unsere Veranstaltungen zunehmend professioneller wurden, blieb die Reichweite begrenzt – ein typisches Problem vieler Vereinsprojekte.
Daher kam mir die Idee, jüdisches Leben durch ein öffentlich sichtbares Zeichen im Stadtbild zu verankern: ein koscheres Restaurant. Restaurants sprechen ein breites Publikum an, bieten Raum für kulturelle Veranstaltungen und ermöglichen finanzielle Eigenständigkeit. Unsere Mutter begeisterte sich sofort für das Projekt und brachte ihre kulinarische Erfahrung ein. Auch mein Bruder war direkt überzeugt – insbesondere, da er in Jerusalem fundierte Kenntnisse der „Kaschrut“ erworben hatte und diese nun in Chemnitz praktisch einbringen konnte.
Was bedeutet es für euch, als jüdische Familie in Chemnitz ein Restaurant zu betreiben?
Als Betreiber eines koscheren Restaurants in Chemnitz fühlen wir uns recht wohl und blicken auf 25 Jahre meist positiver Erlebnisse in unserem »SCHALOM« zurück. Wir schätzen die Begegnungen mit unseren Gästen und die Möglichkeit, jüdische Kultur und Tradition auf kulinarische, visuelle und hörbare Weise erlebbar zu machen.
Was uns allerdings weniger gefällt, ist die geringe mediale Aufmerksamkeit für unsere gastronomische Arbeit – trotz mehrfacher Auszeichnungen für unsere Küche. Wenn über unser Restaurant berichtet wird, dann meist im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Themen oder der Situation von Randgruppen. Dabei sehen wir uns seit unserer Eröffnung am 15. März 2000 nicht als politisches Statement oder Widerstandsbewegung gegen bestimmte Entwicklungen, sondern schlicht als kulinarische Bereicherung für Chemnitz und seine Besucher.
Was bedeutet »SCHALOM« für dich persönlich? Ist es mehr als nur der Name des Restaurants?
Natürlich ist das »SCHALOM« weit mehr als nur ein Name oder ein Restaurant. Die meisten Besucher merken gar nicht, dass draußen kein Wort wie „Restaurant“, „Café“ oder „Bar“ steht – und dennoch weiß jeder, dass er hier kulinarische Erlebnisse erwarten kann.
Aber das »SCHALOM« ist noch viel mehr: Es ist eine Begegnungsstätte, ein Ort für Gespräche und Diskussionen, für Ausstellungen und Musik. Wir veranstalten Lesungen, Vorträge, Bildungsnachmittage und vieles mehr. Unser Ziel war es von Anfang an, einen Raum zu schaffen, der jüdische Kultur auf vielfältige Weise erlebbar macht – offen für alle, die neugierig sind und sich austauschen möchten UND das 365 Tage im Jahr.
Welche Hürden musstet ihr auf eurem Weg zu einem der angesehensten Restaurants in Chemnitz oder sogar in ganz Sachsen überwinden?
Das lässt sich Außenstehenden nur schwer vermitteln. Am Anfang war es fast schon skurril: Viele in Chemnitz waren sich sicher, dass das »SCHALOM« höchstens drei Monate durchhält – spätestens nach einem Jahr würden wir schließen. Ein koscheres Restaurant in Chemnitz? Noch dazu kein typisches Lokal? Das klang für viele nach einer kurzen Episode.
Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass wir längst geschlossen hätten. Alle paar Jahre geht diese Behauptung wieder herum – was ich dann an erstaunten Anrufen merke. Manche Gäste testen unser Festnetz am Abend, um dann überrascht festzustellen, dass nicht nur jemand abhebt, sondern auch Reservierungen entgegennimmt.
Ob wir nach 25 Jahren zu den angesehensten Restaurants in Chemnitz oder Sachsen gehören, müssen andere beurteilen. Für uns zählt vor allem, dass wir jeden Tag mit Leidenschaft und Ernsthaftigkeit hinter unserer Arbeit stehen. Besonders berührt uns die Treue unserer Stammgäste, von denen einige seit dem ersten Monat dabei sind. Gleichzeitig freuen wir uns darüber, dass immer wieder neugierige Besucher den Weg zu uns finden – das ist für uns die schönste Bestätigung.
Wenn du möchtest, kannst du ein wenig über den Antisemitismus berichten, den ihr erlebt habt.
Wenn ich auf unsere 25 Jahre zurückblicke, habe ich wenig Lust, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Aus all den unsinnigen Vorfällen möchte ich keinen hervorheben oder ihm durch die bloße Erwähnung mehr Bedeutung geben, als er verdient.
Was macht euch so resilient gegenüber dem zunehmenden Antisemitismus in
Ostdeutschland?
Unsere Resilienz gründet sich auf die unzähligen positiven Erfahrungen die wir nahezu täglich machen dürfen. Ich habe in verschiedenen TV- und Printinterviews oft betont, dass das Verhältnis von negativen zu positiven Erlebnissen bei etwa 1 zu 25 liegt. Natürlich ist jedes negative Erlebnis schmerzhaft, aber in den meisten Fällen sehe ich darin eher ein Problem der jeweiligen Person – jemand, der mit sich selbst unzufrieden ist und nun ein Ventil sucht. Das macht es nicht besser und schon gar nicht akzeptabel, aber es ist eine Realität, mit der wir umgehen müssen.
Ein gutes Bild dafür liefert ein hochwertiger Rotwein: Beim Dekantieren bleibt am Boden der Flasche Depot zurück – eine Ansammlung von Farb- und Gerbstoffen, also Rückstände, die vom eigentlichen Genuss getrennt werden. Auch die beste Gesellschaft wird immer gewisse ungenießbare Elemente in sich tragen. Dieser Vergleich ist vielleicht nicht wissenschaftlich, aber er hilft mir, die Dinge einzuordnen und mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen.
Das »SCHALOM« ist ein jüdisches Restaurant. Welche Speisen bietet ihr an? Bereitet ihr ausschließlich aschkenasische Gerichte zu, oder gibt es bei euch auch sephardische Küche? Was würdest du empfehlen?
Im »SCHALOM« bieten wir eine abwechslungsreiche Auswahl an Speisen, die sich aus der osteuropäischen jüdischen, mitteleuropäischen jiddischen und nahöstlichen Küche zusammensetzen. Unser Ziel ist es, täglich den Spagat zwischen der sich weltweit entwickelnden koscheren Küche zu meistern. Jede Region, sogar die USA, in denen Juden seit längerer Zeit leben, hat ihre eigenen traditionellen Gerichte hervorgebracht. Was diese Gerichte jedoch alle gemeinsam haben, ist ihre koschere Zubereitung.
Neben der Arbeit unseres gesamten Teams wird unser Konzept durch das regelmäßige koschere Zertifikat des sächsischen Landesrabbiners und die täglichen Kontrollen des Maschgiachs ergänzt, die sicherstellen, dass alle Speisen den höchsten Standards entsprechen.
Was meine Empfehlung betrifft, so kann ich die gesamte Speisekarte empfehlen, insbesondere in Kombination mit unserem speziellen Wochenangebot, das regelmäßig wechselt. Eine pauschale Empfehlung fällt schwer, da sie sehr von den individuellen Vorlieben des Gastes abhängt. Ohne die Vorlieben oder Einschränkungen des Gastes zu kennen, könnte es passieren, dass man einem Vegetarier ein Fleischgericht empfiehlt – und das wäre sicherlich nicht die beste Erfahrung für ihn, sondern eher ein Missverständnis.
Gibt es ein Gericht auf eurer Karte, das eine besondere Familiengeschichte hat oder hat eine besondere Bedeutung für deine jüdische Identität?
Es ist schwer, ein einziges Gericht hervorzuheben, denn fast jedes auf unserer Karte hat eine besondere Bedeutung für unsere Familie oder eine kleine Geschichte, die es mit uns verbindet.
Ein Klassiker, der für uns jedoch besonders wohltuend ist, ist die jiddische Hühnersuppe mit Kneidlach. Nicht umsonst wird sie als „jüdisches Penicillin“ bezeichnet – sie hilft nicht nur bei Erkältungen, sondern auch bei Liebeskummer. Dieses Gericht steht sinnbildlich für die Wärme und Geborgenheit der jüdischen Küche und hat in unserer Familie seit Generationen einen festen Platz.
Stimmt es, dass ihr „Glück in flüssiger Form“ braut? Erzähl mir mehr über das ,,SIMCHA-Bier”. Ist es wahr, dass es gleichzeitig vegan und koscher ist?
Ganz genau! Seit April 2007 wird unser »SIMCHA Pils« professionell gebraut – ein Bier, das nicht nur im »SCHALOM«, sondern auch an verschiedenen Orten in Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien, den USA und Israel ausgeschenkt wird.
Die Idee entstand aus einer Notlage: In den ersten Jahren hatten wir immer wieder Schwierigkeiten, zuverlässig koscheres zertifiziertes Bier zu beziehen. Also beschlossen wir gemeinsam mit Freunden, eine eigene Marke zu entwickeln. Nach kurzer Zeit fanden wir eine Brauerei, die sich auf das Experiment einließ, und konnten auch die passenden Zulieferer gewinnen.
Nachdem wir mit allen Beteiligten die perfekte Pils-Geschmacksnote für uns abgestimmt hatten, fehlte nur noch ein Name. Während wir lange hin und her überlegten, mischte sich mein Bruder Lars Ariel ein und meinte, wir sollten uns nicht den Kopf zerbrechen, sondern einfach an die Freude denken. Und so war der Name geboren – »SIMCHA«, das hebräische Wort für Freude.
Übrigens: Ja, unser »SIMCHA Pils« ist sowohl vegan als auch koscher – ein echtes „Glück in flüssiger Form“.
Was hälst du über die Kulturhauptstadt? Spürst du, dass mehr Menschen »SCHALOM« besuchen, oder hast du da andere Erkenntnisse?
Seit Chemnitz diesen Titel vor etwa 17 Monaten bekommen hat, spüren wir die Auswirkungen. Es kommen immer mehr Besucher aus allen Ecken Deutschlands und darüber hinaus,um die Stadt kennenzulernen und ein erstes Gefühl für sie zu bekommen. Egal, ob sie am Anfang oder Ende ihres Besuchs im »SCHALOM« vorbeischauen – fast alle sind recht beeindruckt.
Natürlich sind viele zunächst vom »SCHALOM« begeistert – Scherz! – aber auch die Stadt selbst wird aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln positiv wahrgenommen. Viele Besucher sind überrascht und stellen fest, dass die Realität viel lebendiger und einladender ist, als sie es sich vorgestellt hatten. Es gibt sogar eine gewisse Enttäuschung darüber, dass Chemnitz nicht so von rechten Tendenzen geprägt ist, wie es häufig in den Medien dargestellt wird.
Zudem wird vielen Gästen bei ihrem Besuch klar, dass wir im »SCHALOM«, trotz der teils negativen Erfahrungen und Herausforderungen der letzten 25 Jahre, nicht in einem dauerhaften „Kriegszustand“ leben, sondern dass die Stadt und ihre Menschen mehr zu bieten haben.
Was möchtest du gemeinsam mit deiner Familie unseren jungen jüdischen und
nichtjüdischen Leserinnen und Lesern in dieser dunklen Zeit mit auf den Weg geben?
In einer schwierigen und komplexen Zeit wie der heutigen sollte jeder von uns versuchen, für seine Mitmenschen ein Licht zu sein. Es geht darum, mehr Energie darauf zu verwenden, darüber nachzudenken, wie wir jeden Tag gemeinsam unsere Gesellschaft lebenswerter gestalten können, anstatt ständig das Trennende zu betonen.
Ein Satz, den ich während meiner Ausbildung bei der Deutschen Bank in Köln von einem Ausbilder hörte, bleibt mir immer im Gedächtnis: „Stell dir vor, du wärst eine Aktie, ein Wertpapier. Wenn du dich selbst richtig einschätzt und beurteilst, würdest du dein Geld in dich investieren oder lieber die Finger davon lassen?“
Dieser Gedanke erinnert uns daran, wie wichtig es ist, Verantwortung für uns selbst und unsere Gemeinschaft zu übernehmen und immer wieder darüber nachzudenken, wie wir uns und die Welt um uns herum positiv beeinflussen können.
Interviewer Alexander Tsyterer, Interviewte Uwe Dziuballa