Drei Welten, drei Stimmen: Das jüdische Generationendrama „Muttersprache Mameloschn“ zieht auf die Hauptbühne des Gorki

Dr. Leonie Ettinger ist Postdoktorandin am Berlin Program for Advanced German and European Studies der Freien Universität Berlin. 2023 promovierte sie am Department of German der New York University. Ihre wissenschaftlichen und journalistischen Artikel erschienen in Marxism in the Age of Trump (2018), Expressionismus (2020), The Journal of Literature and Trauma Studies (2022), der Jüdischen Allgemeinen Zeitung (2023) und mosaik blog (2024); ein weiterer Artikel wird in Concepts of Culture: Experiments in Conceptual History (2025) veröffentlicht. Für ihren Essay “Speaking Past: Ruth Klüger’s weiter leben: Eine Jugend” (2020) erhielt sie den Academic Writing Prize des Alpine Fellowships. https://fu-berlin.academia.edu/LeonieEttinger

© Ute Langkafel MAIFOTO

„Weißt du überhaupt, was Mischpoche heißt?“ fragt Clara ihre Tochter Rahel in Sascha Marianna Salzmanns preisgekröntem Debütdrama Muttersprache Mameloschn. „Jiddisch für zusammengerotteter Haufen, der Probleme aus sich selbst heraus produziert und das als Lebensgrundlage braucht“, antwortet diese spitz. „Auch bekannt als Familie.“ Genau diese emotionsgeladene Mischpoche war ab Dezember 2023 im Studio Я des Maxim Gorki Theaters in einer Neuinszenierung des langjähringen Hausregisseurs Hakan Savaş Mican zu sehen. Aufgrund der großen Nachfrage feierte das Stück am 24.10.2024 auch auf der Hauptbühne Premiere. 

Seit der Uraufführung 2012 in der Box des Deutschen Theaters begeistert das collagenhafte Kammerspiel deutschlandweit das Theaterpublikum. Drei Generationen jüdischer Frauen verhandeln in hitzigen Gesprächsfetzen und persönlichen Brief-Monologen ihre unterschiedlichen Haltungen zur deutsch-jüdischen Geschichte und den eigenen familiären Traumata: Großmutter Lin (Ursula Werner) ist Holocaust-Überlebende und ehemalige DDR-Kommunistin, ihre Tochter Clara (Anastasia Gubareva) distanziert sich vom Judentum, identifiziert sich aber mit Deutschland, und Claras Tochter Rahel (Alexandra Sinelnikova) ist fest entschlossen, aus der mütterlichen Umklammerung auszubrechen, um im jüdischen New York zu studieren. Diese Dreierstruktur offenbart die generationenübergreifenden Auswirkungen traumatischer Erfahrungen, setzt sich mit Fragen der Erinnerungskultur auseinander und erprobt insbesondere mittels der queeren Rahel die Möglichkeit zur Neubelebung säkularer jüdischer Stimmen in Deutschland.

Als das Publikum eintritt, sitzt ein Musiker (Daniel Kahn) im rechten Bühnenflügel am Klavier und spielt klezmerartige Lieder, zu denen er auf Jiddisch und Englisch über Vögel, verlorene Heimaten und vor allem die jiddische Mamme singt. So wird das Publikum noch vor Beginn des Stücks durch die charakteristischen, gleichsam lebhaften wie wehmütigen Moll-Klänge in die doppelbödige Gefühlswelt des Stücks eingeführt. Muttersprache Mameloschn ist eine Komödie, jedoch eine tragische. Auch thematisch dringt dieses Vorspiel direkt zum Kern der Handlung vor, denn im Zentrum stehen die komplexen Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, denen trotz enger Bindungen die Sprache fehlt, um sich gegenseitig zu verstehen. Wie der Titel nahelegt, sollte Mameloschn, das jiddische Wort für Muttersprache, als Grundlage für Kommunikation dienen, doch Großmutter Lin hat es, wie viele Schoa-Überlebende, nicht vermocht, die Stimme ihrer Ahnen weiterzugeben. Muttersprache Mameloschn inszeniert so einen Traditionsbruch.

Wenn Kahn nicht gerade seinen Kaffee schlürft und das Geschehen beobachtet, liefert er Klezmer-Einlagen, interagiert aber auch mit den anderen Figuren, wenn er ihnen jüdische Witze erzählt und die Bedeutung jiddischer Worte im Deutschen erklärt. Auch die anderen Figuren nehmen ihn wahr, wenn Rahel, zum Beispiel, sein Klavier zuschlägt, um die Musik „abzuschalten“ und seine Finger dabei nur knapp verfehlt. Seine Rolle bleibt im Verlauf des Stücks undefiniert. Stellt er ein Familienmitglied dar? Tritt er als Ersatz für Rahels Zwillingsbruder Davie auf, der religiös geworden ist, den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hat und in einem Kibbuz in Israel lebt? Dient er als humoristische Einlage? Als relaxter Gegenpol zu den aufgeheizten Gemütern der drei Hauptfiguren? Transdiegetisch angelegt, erinnert er an Puck in Shakespeares Ein Sommernachtstraum, der sich nahtlos zwischen den Darstellungsebenen bewegt. Performer und Beobachter zugleich, ist Kahn eine Schwellenfigur, die auf einer Metaebene agiert und durch seine Zuschauertätigkeit das Geschehen auf der Bühne zum Schauspiel werden lässt.

Das Stück selbst besteht aus schlagkräftigen Dialogen zwischen den drei Frauen, in denen sie eine verletztende Stichelei nach der anderen austeilen, aber oft eher aneinander vorbei als miteinander reden. Rahel fühlt sich durch die ängstliche Überfürsorglichkeit ihrer Mutter Clara eingeengt; Clara wirft ihrer Mutter Lin vor, sie als Kind aufgrund ihrer kommunistischen Aktivitäten vernachlässigt zu haben; Lin und Clara machen sich gegenseitig für Rahels Homosexualität verantwortlich. In einem geschickten Schachzug des Regisseurs Mican sitzen sie oft auf verschiedenen Seiten der Bühne, was ihre emotionale Distanz räumlich widerspiegelt. Sie vermeiden direkten Blickkontakt, ihre Augen sind auf das Publikum gerichtet. Dabei sticht besonders die Leistung der mittlerweile 81-jährigen Gorki-Veteranin Ursula Werner hervor, die mit perfektem komödiantischen Timing in den Wortgefechten mit ihrer Tochter den Körper wegdreht, während ihre Augen sie spitzbübisch von der Seite anblicken. Die Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern wird noch deutlicher, wenn Briefe, in denen sie ihre tiefsten Sehnsüchte und Sorgen offenbaren, als Monologe zwischen den dialogischen Szenen zum Publikum gesprochen werden. Man fragt sich, ob diese Texte jemals ihre Adressaten erreicht haben oder ob der Zuschauer als neuer Empfänger auserkoren wird.

Das Bühnenbild von Alissa Kolbusch ist minimalistisch, aber wirkungsvoll. Abgesehen von einer Leinwand im Hintergrund, die Szenen aus New York, Bilder einer jungen, kommunistischen Lin oder ihr Zeitzeugeninterview in einer Fernsehsendung zeigt, wird das Interieur der Wohnung durch wild übereinander gestapelte Stühle angedeutet, die an die Installationen der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo erinnern. Die Leere, die durch die unbesetzten Stühle vermittelt wird, könnte für die Abwesenheit anderer Familienmitglieder stehen oder für die unüberbrückbare Grenze zwischen den Generationen, wenn Clara nach einem Streit mit ihrer Mutter wütend davon stapft und Lin hinter der Stuhlwand zurückbleibt. Einmal werden die Stühle auch in die Handlung eingebunden. Clara, die wegen Rahels Abreise nach New York am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht, verlagert den Stuhlberg Stück für Stück von einer Seite der Bühne auf die andere und liefert dabei eine eindrückliche Darbietung von Cat Stevens’ „Wild World“. Ihre Rage über die Abwesenheit ihrer Kinder, die sie als ihr eigenes Versagen empfindet, bricht heraus, als sie mit verzweifelter Stimme singt: „But if you wanna leave, take good care. Hope you have a lot of nice things to wear. But then a lot of nice things turn bad out there.“ 

Claras Umgestaltung des Bühnenbildes deutet aber auch die Möglichkeit eines Neuanfangs an. Am Ende des Stücks ist Großmutter Lin gestorben. Es ist Jom Kippur und Rahel kann wegen eines Hurrikans in New York nicht zur Beerdigung fliegen. Dennoch lädt sie ihre Mutter ein, so bald wie möglich vorbeizukommen. Rahel wendet sich nicht wie ihr Bruder Davie von der Familie ab. Sie ist nicht „für immer“ ins Ausland gezogen, weil Deutschland „nicht das richtige Land“ für sie ist. Anders als ihre Mutter, die sich stets dafür schämte, einer Minderheit anzugehören, kehrt sie dem Judentum nicht den Rücken, sondern versucht, ein neues säkulares Judentum für sich und ihre Generation zu definieren, das eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlägt. Das gibt Lin, wie einige ihrer letzten Worte verlauten lassen: „Hoffnung für die Welt, die nach [ihr] kommt.“

Es ist diese Hoffnung, gepaart mit den oft aus dem eigenen Elternhaus vertrauten Dialogfetzen, die in Deutschland lebende jüdische Menschen mit einem tröstlichen Gefühl aus dem Theater gehen lässt. Das Stück verzichtet darauf, simplifizierte Lösungen für die intergenerationellen Konflikte anzubieten, sondern endet mit der Möglichkeit zur Verbindung trotz unterschiedlicher Standpunkte. Gerade in Anbetracht der aktuellen politischen Spannungen tut es gut, so etwas zu erfahren.

Die nächsten Vorstellungen von Muttersprache Mameloschn finden am 13.11. und 06.12. um 19:30 Uhr im Maxim Gorki Theater statt: www.gorki.de.

REGIE
HAKAN SAVAŞ MİCAN
BÜHNE
Alissa Kolbusch
KOSTÜME
Sylvia Rieger
MUSIK / LIVE-MUSIK
Daniel Kahn
VIDEO
Sebastian Lempe
DRAMATURGIE
Holger Kuhla, Clara Probst
Alexandra Sinelnikova, Anastasia Gubareva, Ursula Werner in
Muttersprache Mameloschn
VON
Sasha Marianna Salzmann