Von Antonia Sternberger
Am 24. Februar 2025 jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine zum dritten Mal und wer vielleicht gehofft hatte, dass die deutsche Regierung und einige Parteien des linken politischen Spektrums ihre ablehnende Haltung gegenüber der Ukraine geändert hätten, wird bitter enttäuscht sein. Vielleicht ist es an der Zeit sich einzugestehen, dass der moralische Kompass derjenigen verrutscht ist, die auch nach den Berichten über grausamste Kriegsverbrechen, Vergewaltigungen ganzer Familien, Kastrationen ukrainischer Soldaten und dem gezielten Beschuss von Kinderkrebsstationen, immer noch Verhandlungen mit Putin herbeisehnen und die Meinung vertreten, dass ein Waffenstillstand und ein Abtreten besetzter Gebiete an Russland notwendig seien. Womöglich hat dieser auch nie existiert.
Vor einigen Wochen machte auf X (vormals Twitter) eine Aussage des Filmkritikers und Podcast-Hosts Wolfgang M. Schmitt ihre Runden, die in einer Folge des Podcast „Die neuen Zwanziger” im Dezember 2023 fiel. „Aber das ist nicht verteidigungswürdig. Also da würde auch niemand leben wollen. Niemand will in ein Gebiet, das so weit entwickelt, so fortentwickelt ist, dass da die Sachen noch mit Eseln über die Straße gezogen werden, das ist einfach nicht unser Lebensstandard und da kann man doch erstmal sagen, ok, es geht uns erstmal nichts verloren, wenn für diese Landstreifen nicht noch mal hunderttausend Leute sterben.”, tönte er. Bei einer solchen Aussage weiß man als Hörerin gar nicht, wo man anfangen soll und wo man hinsoll mit der eigenen Verzweiflung und Abscheu angesichts des Inhalts. Die Worte Schmitts zeigen auf, dass er sich zwar mit filmischen Werken auskennt, aber von Geopolitik, Geschichte und osteuropäischer Kultur lieber seine Finger lassen sollte. Man würde ihn am liebsten in ein Klassenzimmer setzen, um ihm die Dreistigkeit seiner Aussage vor Augen zu führen.
Tatsächlich wollen da weiter Menschen leben, und zwar Ukrainerinnen und Ukrainer in Städten wie Charkiw, Luhansk oder Mariupol. Städte, die von russischen Soldaten zerbombt und besetzt wurden. Städte, in denen schlimmste Kriegsverbrechen auf Geheiß Putins verübt wurden. Städte, die zum Inbegriff russischer imperialistischer Träume und ukrainischen Mutes geworden sind. Städte, in denen Ukrainerinnen und Ukrainer ermordet und entführt wurden, weil sie sich Putins Wahn von der Großmacht Russland nicht beugen wollten. Städte, die voller Geschichte, Kultur und Widerstand sind. Dass jemand diese Orte als zurückgebliebenes Stück Land begreift, welches zu schützen nichts wert ist, lässt sich nur auf zwei Dinge zurückführen. Erstens, die Person ist Putin hörig und trauert ebenfalls der menschenunterdrückenden und freiheitsraubenden Sowjetunion nach oder zweitens, die Person ist schlichtweg naiv und hat sich noch nie mit den Staaten beschäftigt, die jahrzehntelang besetzt und deren Kultur unterdrückt wurde. Ich hoffe für Wolfgang M. Schmitt, dass auf ihn Letzteres zutrifft. Nicht, dass das seine rassistische Aussage bessern würde, aber man könnte sie wenigstens auf Unwissen schieben, anstatt sich damit auseinandersetzen zu müssen, dass Teile der Linken nichts mehr als Verachtung für osteuropäische Länder in sich tragen, die gegen das System aufbegehrt haben, dass doch angeblich die Massen befreien soll, ihnen aber nur Unglück bringt – Kommunismus.
Vielleicht ist es aber an der Zeit sich dieser Erkenntnis zu stellen. In Zeiten, in denen der Vizepräsident der USA, J.D.Vance, auf der Münchener Sicherheitskonferenz Europa ein internes Demokratieproblem andichtet, in der Trump mit Putin gemeinsam über den Kopf der Ukraine und die EU hinweg einen Frieden „verhandeln” möchte und der größte NATO-Partner sich somit von Europa ab- und gen Russland wendet. Alle europäischen Staaten müssen realisieren, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Ukraine unserer vollen Unterstützung bedarf. Dieser Appell richtet sich jedoch weder an unsere skandinavischen Nachbarländer noch an unsere osteuropäischen. Sie alle haben seit knapp zwei Jahrzehnten vor Putin und seinen Machtfantasien gewarnt und sind seit dem 24. Februar 2022 nicht von der Seite der Ukraine gewichen, obwohl sie teilweise Grenzen mit Russland teilen und nach der Logik von Bundeskanzler Scholz so die Welt in einen 3. Weltkrieg stürzen. Natürlich muss darauf hingewiesen werden, dass das Baltikum, Tschechien und Polen (nur um einige zu nennen) aufrüsten, jegliche Beziehungen zu ihrem machthungrigen Nachbarn kappen und die Ukraine unterstützen, gerade weil sie schmerzhaft die Erfahrung haben machen müssen, wie schnell Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sterben, wenn Russland sich zum Herrscher aufschwingt.
Zurück ins Klassenzimmer – weiterhin ist es angebracht, Wolfgang M. Schmitt aufzuzeigen, dass seine Aussage, „dass uns nichts verloren ginge, wenn für die Verteidigung dieses Landstreifens nicht noch mal hunderttausend Leute sterben würden”, an deutscher Überheblichkeit und Ahnungslosigkeit nicht zu überbieten ist. Wer ist er, dass er sich anmaßt darüber zu urteilen, welche Landstreifen es wert sind zu verteidigen, welche es wert sind für sie zu sterben. Die Ukraine hat sich diesen Krieg nicht ausgesucht. Sie hat es sich nicht ausgesucht, dass die Krim annektiert und Teile der Ostukraine besetzt wurden. Sie hat es sich auch nicht ausgesucht, dass ihre Kinder verschleppt, ihre Felder und Städte geflutet, ihr Energienetz zerstört und ihre Soldaten gefoltert, in Lager gesperrt und vor laufender Kamera mit verbundenen Händen erschossen werden. Wissen Sie Herr Schmitt, warum trotzdem tausende Ukrainer kämpfen und sterben? Sie kämpfen um das Überleben. Um das Überleben ihrer Familie, ihrer Freunde, ihrer Nachbarn, ihrer Städte, ihrer Kultur, ihrer Ukraine. Sie kämpfen, weil sie keine andere Wahl haben. Im Vergleich zu wohlstandsverwahrlosten Deutschen haben sie nicht das Privileg sich in ihre Sessel zurückzulehnen, entspannt einen Kaffee zu schlürfen und dann ein Buch darüber zu verfassen, warum man niemals für sein eigenes Land kämpfen würde, so wie ihr geehrter Kollege und Co-Host Ole Nymoen. Im Gegensatz zu ihnen, sind sie nämlich wahrhaftig mit der Realität konfrontiert, die Putin heißt. Und diese Realität trägt nicht den Namen „sozialistischer Sommerurlaub”, sondern heißt Victoria, Mykhailo, Oleksiy, Yurii und Kateryna. Sie heißt 12456. Möchten Sie wissen wieso? Weil Stand Dezember 2024 laut dem OHCHR (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights) 12,456 ukrainische Zivilisten umgebracht wurden. Für sie mögen diese Menschen nichts bedeuten. Sie kennen sie nicht und sie leben ja auch in einem Land, dass ihrer Meinung nach „unterentwickelt” ist und es deshalb nicht zu verteidigen lohnt. Aber diese 12,456 Menschen bedeuten für andere eine ganze Welt. Und weil jeder Mensch, kraft seines Menschseins ein Jemand ist, egal wo er herkommt, verdient er es zu leben und ist es wert verteidigt zu werden.
Wissen Sie Herr Schmitt, gut wahrscheinlich wissen Sie es nicht, da Sie der Geschichte der Ukraine sehr gleichgültig gegenüberzustehen scheinen, aber die Wehrhaftigkeit der Ukraine und die Haltung vieler selbsternannter Linker zu diesem Krieg, bestätigt ein weiteres Mal diesen vielzitierten Satz: „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie reimt sich.” Jetzt werden Sie sich wahrscheinlich fragen – wieso? – und ich erkläre es Ihnen gerne. Zwischen 1932 und 1933 brach in der Ukraine eine große Hungersnot aus, die durch die Sowjetregierung absichtlich ausgelöst wurde und der schätzungsweise zwischen 3 bis 7 Millionen Menschen zum Opfer fielen. In der Ukraine wird diese Hungersnot Holodomor („Tötung durch Hunger”) genannt. Laut Raphael Lemkin setzte Stalin den Hunger gezielt als Waffe ein, um den Widerstand ukrainischer Bauern zu brechen und ein ukrainisches Nationalgefühl zu zerstören. Dieser Genozid am ukrainischen Volk, ausgeübt durch die Sowjetunion, ist weltweit eher unbekannt und wird bis zum heutigen Tage von vielen Staaten auch nicht als solcher anerkannt. Dass es so weit kam, dass die Welt sich einfach umdrehte, als Millionen Menschen tot umfielen, einschliefen und nicht mehr aufwachten, Pflanzen aßen und flohen, lässt sich mit zwei Worten zusammenfassen: ideologisches Wunschdenken. Wissen Sie, es war nicht so, dass niemand über den Holodomor berichtet hätte. Ein britischer Journalist, Gareth Jones, reiste 1932 in die Ukraine und schrieb bei seiner Rückkehr mehrere Artikel über die Hungersnot. Er wurde jedoch mundtot gemacht, von Journalisten und Politikern, die der sozialistischen Idee nachhingen und begeistert von Stalin und seinem Fünf-Jahres-Plan waren. Dass Menschen zur Umsetzung dieser Ideologie zu Massen in Gulags getrieben, enteignet und entrechtet wurden, spielte keine Rolle. Man verschloss einfach die Augen, drehte sich um und nutze das Medium Zeitung, um UDSSR-Propaganda in den Äther zu schreien.
Gerade angesichts des Holodomor und des Versagens der westlichen Welt in ihrem Umgang damit, gerade angesichts der Naivität in Bezug auf sowjetische imperialistische Unterfangen, ist der heutige Verrat an der Ukraine umso schmerzhafter. Aus deutscher Perspektive besonders. Nach dem Holodomor waren es die Deutschen, die die Ukraine besetzt und angegriffen hatten. Es waren die Deutschen, die die jüdischen Ukrainer und Ukrainerinnen erschossen, deportierten und vergasten. Es waren die Deutschen, die Babyn Jar zu einem ewigen Symbol menschlicher Verkommenheit und Grausamkeit haben werden lassen. Auch aufgrund dieses Erbes sollte Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun, um die Ukraine nach drei Jahren Krieg endlich ganzheitlich zu unterstützen. Dieser Appell richtet sich an alle Deutschen, an Politiker, Journalisten und Entscheidungsträger, aber insbesondere an alle, die sich selbst Links nennen. Eine politische Ausrichtung, die sich sonst gegen Kolonialismus und Imperialismus stellt, die sich auf die Fahne schreibt, Menschenrechte weltweit zu vertreten und zu verteidigen, muss sich von ihrer Nähe zu Russland lösen. Es ist nicht die Zeit für ein Festhalten an festgefahrenen Solidaritäten. Es ist die Zeit angebrochen, für ein starkes, vereintes und wehrhaftes Europa, das sich Putin und seinen Ambitionen entschlossen entgegenstellt, sich hinter der Ukraine versammelt und begreift, dass diese nicht nur für sich und ihr Land kämpft, sondern uns alle verteidigt vor einer unfreien, unfriedlichen und undemokratischen Zukunft. Ansonsten wird die Ukraine auf dem Altar einer heuchlerischen Ideologie geopfert, in der Menschen eben nicht gleich sind, sondern nur, wenn sie sich einem kleinen fanatischen russischen Mann und seinem imperialistischen Größenwahn beugen.