Der Tag, der tausend Tränen

Von David Weissmann

Ich hatte an dem Tag eine Klausur und wollte eigentlich ausschlafen. Aus irgendeinem Grund bin ich aber schon um 7 Uhr aufgewacht und hab[e] direkt zum Handy gegriffen. In der Telegram-Gruppe der russischsprachigen Studierenden, in der ich auch drin bin, sah ich die Nachricht: „Leute, bewahrt Ruhe. Ruft eure Verwandten in der Ukraine an und fragt sie, wie es ihnen geht.“
Ich wusste da: Es hat angefangen.
Als ich aus meinem Zimmer rausging, sagte meine Mutter zu mir: „Das war’s! Krieg!“
„Wie … Krieg? Aber unsere Verwandten? Kommen die jetzt zu uns?“
Meine Eltern haben meine Großeltern und meine Familie in Kropyvnytskiy und meine Tante und Cousine in Dnipro über Videochat angerufen und mit ihnen über die Situation geredet. Niemand wollte zunächst weg. Alle hatten sich schließlich schon ein Leben aufgebaut. Auch wusste niemand, ob man zur Arbeit gehen sollte. Was macht man da? Es ist Krieg.
An dem Tag konnte ich nichts mehr für die Klausur lernen. Ich saß nur noch vor dem Handy, schrieb Freunde und Bekannte an, wie es ihren Familien ging und las mit Erschrecken jede neue Nachricht.
Nach der Klausur hab ich noch etwas Zeit mit einem Freund verbracht und einfach alles mit ihm geteilt, wie es meiner Familie und mir geht. Er war sichtlich sehr mitgenommen, obwohl er selber keinen direkten Bezug zur Ukraine hatte.
Am selben Abend plante ich zudem eigentlich noch mit meinem Vater zum Basketballspiel vom FC Bayern gegen den ZSK Moskau zu gehen. „Das Spiel ist abgesagt worden“, sagte mein Vater am Telefon. Ich hatte den ganzen Tag schon das Gefühl, dass es abgesagt wird und wusste, dass ZSK Moskau so bald nicht mehr wieder in München spielen würde.
Ich machte mich auf den Weg zur Demonstration vor der russischen Botschaft. Dort traf ich Freunde und Bekannte. Und viele trugen tatsächlich noch Masken, schließlich galten noch die Coronaregeln. Ich hatte nichts, um meine Unterstützung für die Ukraine wirklich kenntlich zu machen – schließlich kam ich spontan. Ich habe dann ein Aufgabenblatt aus meinem Rucksack rausgeholt und mit einem Marker auf die Rückseite „fuck putin“ geschrieben. Ein Freund meinte damals auch noch „Ich weiß nicht, aber… ich kann meine Wut nicht nur auf Putin konzentrieren. Klar, er gibt den Befehl, aber da stehen hunderte Menschen, die dann feuern, Flughäfen zerstören, Infrastruktur bombardieren. Das ist nicht nur er.“ Die Demo endete mit der ukrainischen Hymne und als der Himmel ein nächtliches Blau angenommen hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Das war erst Tag 1.