Von David Gladilin
David studierte Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit Schwerpunkt im Staatsrecht. Seit 2024 ist er Rechtsreferendar im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf und seit 2023 Vorsitzender des juristischen Beirats der JSUD.
Gliederung
- Der erlassene Haftbefehl
- Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes
- Vorwürfe gegen Israels Regierung
- Beweisführung
- Gleichsetzung der Hamas und Israel
- Vollstreckbarkeit des Haftbefehls durch die Mitgliedstaaten
- Die Forderung nach einem Waffenembargo
- Conclusio
1. Der erlassene Haftbefehl
Am 20. Mai 2024 beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) die Verhaftung der Köpfe der Hamas (Yahya SINWAR, Mohammed Diab Ibrahim AL-MASRI und Ismail HANIYEH) sowie die Verhaftung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu und des Verteidigungsministers Yoav Gallant in einem Atemzug.
Am 21. November 2024 gab die Vorverfahrenskammer des IStGH dem Antrag in den wesentlichen Gründen statt und erließ einen Haftbefehl gegen Netanjahu, den nun ehemaligen Verteidigungsminister Gallant und Al-Masri. Die angeklagten Verantwortlichen der Hamas sind in der Zwischenzeit bei gezielten Schlägen eliminiert worden.
Dieser Vorgang stellt einen beispiellosen Vorgang dar und wirft neben hochpolitischen Fragen auch rechtliche auf.
2. Zuständigkeit des IStGH (keine Mitgliedschaft Israels)
Fraglich ist, ob der Internationale Strafgerichtshof überhaupt befugt ist, einen solchen beantragten Haftbefehl zu erlassen.
Der IStGH ist eine eigenständige völkerrechtliche Institution, die 1998 mit dem Römischen Statut zur Verfolgung schwerster Verbrechen von internationaler Bedeutung gegründet wurde. 123 Länder unterschrieben und ratifizierten das Statut, wodurch sie sich der Gerichtsbarkeit des IStGH unterwarfen.
Gemäß Art. 12 des Statuts ist der Gerichtshof befugt, tätig zu werden, wenn ein Vorwurf gegen einen Vertragsstaat nach Abs. 1 erhoben wird. Darüber hinaus sieht sich der Gerichtshof nach Abs. 2 lit. a) auch für zuständig an, wenn ein Staat, in dessen Hoheitsgebiet das fragliche Verhalten stattgefunden hat, Vertragsstaat ist. Hierfür muss ein Vertragsstaat den Gerichtshof anrufen oder der Ankläger des IStGH eigenständig tätig werden.
Israel ist kein Vertragsstaat des Römischen Status, sodass eine Zuständigkeit gemäß Art. 12 Abs. 1 auszuschließen ist.
Der Ankläger des IStGH begründet die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Abs. 2 lit. a) damit, dass “Palästina” als Vertragspartei, welche einerseits Quelle der schweren Verbrechen (durch die Hamas) und andererseits Tatort der schweren Verbrechen (durch Israel) sein soll.
Diese Zuständigkeitserklärung ist sehr umstritten. Problematisch dabei ist zunächst die Staatlichkeit Palästinas. Die Palästinensische Autonomiebehörde aus Ramallah besitzt in den Vereinten Nationen lediglich einen Beobachterstatus, der faktisch separate und von der Autonomiebehörde unabhängige Gazastreifen hingegen jedoch nicht und ist auch sonst international nicht als souveräner Staat anerkannt.
Selbst bei Annahme einer Staatlichkeit im Rahmen dieses Verfahrens, handelt es sich bei Israel jedenfalls nicht um einen Vertragsstaat des Römischen Statuts.
Folglich bedeutet dies, dass eine eigenständige völkerrechtliche Organisation eigenmächtig über souveräne Staaten urteilen will, welche sich nicht der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes unterworfen haben. Eine derartige Anmaßung und Handlung ultra vires durch eine völkerrechtliche Organisation ist international unvergleichlich.
Die Regelung des Art. 12 Abs. 2 lit. a) führt somit dazu, dass ein Nichtvertragsstaat genauso behandelt wird wie ein Vertragsstaat. Eine auf der freien Entschließung eines souveränen Staates basierende Unterschrift und Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages wird dadurch vollends umgangen. Wenn der IStGH sich für derart allzuständig hält, wird eine Vertragsratifizierung durch Mitgliedsstaaten zu einer bloßen deklaratorischen Maßnahme degradiert und ist dadurch wirkungslos.
Jedenfalls im Hinblick auf die Vorwürfe gegen Israels Regierung ist der Gerichtshof wegen der Verletzung der Souveränität Israels (vgl. Art. 1 Nr. 2 UN-Charta) nicht befugt, zu ermitteln.
3. Vorwürfe gegen Israels Regierung Der Chefankläger Khan wirft Israel vor:
- Nahrungsmittelentzug als Kriegsmittel gegen die Zivilbevölkerung (Art. 8 b Nr. 25 des Statuts),
- vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit (Art. 8 a Nr. 3) oder grausame Behandlung (Art. 8 c Nr. 1),
- vorsätzliche Tötung (Art. 8 a Nr. 1, Art. 8 c Nr. 1),
- vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung (Art. 8 b Nr. 1, Art. 8 e Nr. 1),
- vorsätzliche Tötung und/oder Ausrottung (Art. 7 Abs. 1 a,b), auch unter Einbeziehung des Todes durch Aushungern,
- Verfolgung einer Gruppe oder Gemeinschaft (Art. 7 Abs. 1 h), • andere unmenschliche Handlungen (Art. 7 Abs. 1 k).
Nach Prüfung des Antrags sah die Vorverfahrenskammer hinreichenden Verdacht bezüglich:
- eines Nahrungsmittelentzuges als Kriegsmittel gegen die Zivilbevölkerung,
- vorsätzlicher Tötung, auch unter Einbeziehung des Todes durch Aushungern, • Verfolgung einer Gruppe oder Gemeinschaft, • sowie anderer unmenschlicher Handlungen.
Netanjahu und Gallant wird vorgeworfen, absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser, Medikamenten und medizinischen Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten zu haben. Hierdurch sei die Grundversorgung nicht gewährleistet gewesen.
Darüber hinaus sollen in zwei Fällen bewusst zivile Ziele im Gazastreifen angegriffen worden sein.
4. Beweisführung
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023 sind die israelischen Verteidigungskräfte mit dem Ziel in den Gazastreifen eingedrungen, fortdauernde Angriffe aus dem Gazastreifen zu unterbinden, die Hamas zu zerschlagen und die ca. 250 in Geiselhaft genommenen Menschen zu befreien.
Unzweifelhaft ist, dass sich die suboptimale Versorgungslage im Gazastreifen seitdem deutlich verschlechtert hat. Fraglich ist jedoch, worauf genau dieser Zustand im Kriegsgebiet zurückzuführen ist. Die Hamas beherrscht immer noch einen Großteil des Gazastreifens und regelt in vielen Fällen die Verteilung der Hilfsgüter. Hierbei kommt es regelmäßig zur Unterschlagung von Teilen oder gar gesamter Hilfskonvois, sodass der Zivilbevölkerung die Güter vorenthalten werden.
Seit dem Beginn des Gaza-Krieges werden seitens Israels in großem Umfang Güter in den Gazastreifen geleitet. So sind bereits über 56.000 LKW-Lieferungen mit insgesamt über 1 Million Tonnen an Treibstoff, medizinischen Gütern und Lebensmitteln über israelische Grenzübergänge in den Gazastreifen erfolgt (Stand November 2024 laut Israelischem Verteidigungsministerium). Hierbei hat sich die Anzahl und Größe der Lieferung mit der Zeit auch ausgeweitet.
Ob die Unterversorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen nun an der Sabotage der Hamas und/oder an unzureichenden Hilfslieferungen liegt, lässt jedenfalls nicht auf eine Absicht der israelischen Regierung schließen, die Bevölkerung als Mittel der Kriegsführung auszuhungern. So schrecklich die Folgen des Krieges für alle betroffenen Menschen sind, sind diese kaum vermeidbar und einem Kriegsgeschehen immanent. Folglich trifft der hier erhobene Vorwurf nicht zu.
In Hinblick auf die vorgeworfenen vorsätzlichen Tötungen und Angriffe auf Zivilisten lässt sich eines mit Sicherheit sagen. Übereinstimmenden Berichten zufolge greift Israel gezielt Einrichtungen der Hamas und anderer militärischer Organisationen im Gazastreifen an. Offenkundig ist mittlerweile auch, dass diese Terrorgruppierungen vordringlich aus ziviler Infrastruktur heraus operieren und die eigenen Zivilisten hierfür als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Das bedeutet, dass sich Raketenabschussrampen auf dem Gelände von Wohnhäusern, Schulen, Kindergärten sowie Krankenhäusern befinden. An jenen zivilen Orten oder unterhalb dieser in versteckten Tunneln lagert die Hamas ihre Waffen und beherbergt dort ihre Einsatzführung mit ihren Kämpfern. Auch Einrichtungen des Flüchtlingshilfswerks UNRWA werden für terroristische Zwecke missbraucht, während zwischen zahlreichen Mitarbeitern der UNRWA und der Hamas Personenidentität besteht (über 100 laut israelischem Außenministerium).
Völkerrechtlich verliert eine zivile Einrichtung ihren besonderen Schutzstatus, sobald sie für militärische Ziele zweckentfremdet wird und darüber hinaus dadurch eine unmittelbare, gegenwärtige Gefahr darstellt. Soweit dies möglich ist, warnt Israel die Zivilbevölkerung im Gaza vor bevorstehenden Angriffen, um von der Hamas forcierte zivile Opfer zu vermeiden. So führte dieses Vorgehen dazu, dass von den laut Hamas vermuteten knapp 45.000 Toten im Gaza seit dem 08.10.2023 fast die Hälfte (über 20.000) Kämpfer der Hamas sind. Dies stellt eine unvergleichlich geringe Anzahl an zivilen Opfern als Kollateralschäden für ein dicht besiedeltes urbanes Kriegsgebiet dar. Aus diesen Gründen ist nicht ersichtlich, dass Israel gezielt und absichtlich zivile Ziele ohne jegliche militärische Bedeutung angreift.
Beweise für das Gegenteil stehen immer noch aus, da der Gerichtshof diese zum Schutze von Opfern nicht veröffentlichen will. Eine solche Abwägung zulasten der Beschuldigten ist jedoch nicht tragbar, da der erlassene Haftbefehl in diesem hochpolitischen Verfahren zu einer unvergleichlichen Vorverurteilung führt. Ferner werden den Beschuldigten schwerste Verbrechen vorgeworfen, sodass die Nachvollziehbarkeit der Gründe für den Erlass des Haftbefehls unabdingbar ist. Die Geheimhaltung der vermeintlichen Beweise lässt das Verfahren schließlich intransparent wirken.
Da auch dieser Vorwurf nicht zutrifft, verfangen die übrigen per se vagen und im Haftbefehl inhaltsleeren Vorwürfe der systematischen Verfolgung einer Gruppe und unmenschlicher Behandlung nicht. Es liegt somit kein Verstoß seitens der israelischen Regierung gegen das Römische Statut vor.
5. Gleichsetzung der Hamas und Israel
Direkt ins Auge fällt der Umstand, dass die Hamas-Führung und die israelischen Regierungsvertreter in einem Atemzug erwähnt und angeklagt werden. Dies ist eine beispiellose Gleichsetzung. Auf der einen Seite steht eine Terrororganisation, welche es sich zum Hauptziel gesetzt hat, den jüdischen Staat zu vernichten, und auf der anderen Seite der demokratische Rechtsstaat Israel, welcher einen der schwersten Angriffe auf seine Existenz und schlimmsten Schlag gegen das jüdische Leben seit der Shoa erfahren hat.
Den mit genozidaler Absicht erfolgten Angriff der Hamas mit der Selbstverteidigung Israels gleichzusetzen, stellt einen Bruch mit dem bisher für möglich Gehaltenen dar.
Damit leistet der Strafgerichtshof entweder aus Ignoranz oder bei vollem Bewusstsein israelfeindlichen Ressentiments und der Delegitimation Israels Vorschub.
Mithin ist eine solche Gleichsetzung nicht tolerabel und beschädigt das Ansehen der Institution massiv.
6. Vollstreckbarkeit des Haftbefehls durch die Mitgliedstaaten
Fraglich ist, ob Deutschland als Mitgliedstaat den nun erlassenen Haftbefehl gegen Premierminister Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant vollstrecken muss, da der IStGH selbst über keine rechtsvollziehenden Kräfte verfügt.
Durch Bundesgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG trat Deutschland im Jahr 2000 dem Römischen Statut bei. Demnach unterwarf sich die BRD der Rechtsprechung des IStGH. Das führt dazu, dass dessen Urteile und Beschlüsse, wie z.B. der vorliegende Haftbefehl, durch Deutschland vollzogen werden müssen. Diese Vollzugspflicht unterliegt jedoch Einschränkungen. So führt unter anderem eine verfassungswidrige Rechtsanwendung durch den Strafgerichtshof zu einem Vollzugshindernis. Gemäß Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG sind Exekutive und Judikative in Deutschland an Recht und Gesetz, insbesondere an das Verfassungsrecht, gebunden, was nicht durch ein einfaches Bundesgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG außer Kraft gesetzt werden kann.
Im vorliegenden Fall genießt der amtierende Premierminister Israels als Vertreter eines souveränen Staates absolute (funktionale und persönliche) Immunität. Dieses völkergewohnheitsrechtliche Institut stellt einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts nach Art. 25 GG dar und geht somit den einfachgesetzlichen Verpflichtungen aus dem Beitritt zum Römischen Statut vor.
Auch der ehemalige Verteidigungsminister Gallant genießt noch nach seiner Amtszeit eine funktionale Immunität, die ihn dauerhaft vor Strafverfolgung aufgrund von Handlungen im Amt schützt.
Darüber hinaus ist Deutschland verpflichtet, eine grundlegende Kontrolle bei evident fehlerhafter Rechtsanwendung und Willkür durchzuführen, da die Auslagerung der Kompetenz auf die zwischen- und überstaatliche Ebene nicht von der Sicherstellung der rechtsstaatlichen Grundsätze befreit.
Die Vollstreckung des offensichtlich unzulässigen sowie unbegründeten Haftbefehls gegen Netanjahu und Gallant verstieße somit, ungeachtet eines schwerwiegenden politischen Eklats, evident gegen das Verfassungsrecht.
7. Die Forderung nach einem Waffenembargo
Seit dem erlassenen Haftbefehl gegen die israelischen Regierungsvertreter wird der Ruf nach einem Waffenembargo gegen Israel immer lauter. Einige Staaten sehen sich aufgrund der Vorwürfe gegen Israels Regierung sogar verpflichtet, die Waffenlieferungen zu unterbinden, wenn die Gefahr besteht, dass diese zu völkerrechtswidrigen Zwecken verwendet werden könnten.
Diese Sorge lässt sich aufgrund der erwiesenen Unhaltbarkeit der Vorwürfe ausräumen. Darüber hinaus würde ein Waffenembargo dazu führen, dass Israel sich gegen die fortwährenden Angriffe auf sein Territorium aus allen Himmelsrichtungen nicht angemessen wehren könnte und hierdurch das Selbstverteidigungsrecht durch die Hintertür vereitelt würde.
Unabhängig davon kommt bei derartigen Forderungen der Anschein der Doppelmoral auf, wenn Israel das Recht auf Selbstverteidigung zugestanden, jedoch gleichzeitig jede Verteidigungshandlung verurteilt wird. Diese widersprüchlichen Forderungen würden das Selbstverteidigungsrecht ins Leere laufen lassen. Bei anderen Staaten, welche die gelieferten Waffen – im Gegensatz zu Israel – nachweislich zu völkerrechtswidrigen Zwecken nutzen, kommt ein solches Waffenembargo nicht in Betracht.
8. Conclusio
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der inhaltlich falsche und unzulässige Haftbefehl des Strafgerichtshofs sein Ziel verfehlt und stattdessen schwerste unbegründete Vorwürfe gegen die israelische Regierung zum Schaden Israels und des Strafgerichtshofs selbst verbreitet. Nicht ohne Grund ziehen die USA Sanktionen gegen den Strafgerichtshof in Erwägung. Diese sollte der IStGH dadurch abwenden, dass er den Haftbefehl aufhebt und sich auf seine Zuständigkeit beschränkt.