14/07/2024
Alexander Tsyterer ist 21 Jahre alt, studiert Sensorik und Kognitive Psychologie an der TU Chemnitz. Er ist Gründer und Vorsitzender der Jüdischen Allianz Mitteldeutschland und Mitglied der CDU und Jungen Union. Thematiken wie Migration, Integration, Soziales oder Werte-Politik sind für ihn wichtig.
Ach ja, einen Wahlabend zu besuchen, ist manchmal spannend. Es fühlt sich an, als ob man ein EM-Spiel zwischen Deutschland und Schottland besucht. Doch im Gegensatz zu einer EM bestimmen die Wahlen die politische Zukunft des Landes, und die Ergebnisse der Wahlen waren vorhersehbar, insbesondere in Ost-Mitteldeutschland. Die Spannung des Abends lag nicht darin, ob man mehr Stimmen als die AfD oder BSW bekommt, sondern darin, ob man nicht die Gunst der Bevölkerung vollständig verliert. So saß ich mit meinem Kollegen in Chemnitz, in Ostdeutschland, und beobachtete die Auszählung der Ergebnisse der Kommunal- und Europawahlen.
In Ostdeutschland konnte die AfD dieses Jahr bei den Europawahlen 29,2 % erzielen, die CDU 20,6 % und die BSW 13,8 % bei einer Wahlbeteiligung von ca. 60 %. Die restlichen Parteien lagen alle unter 10 %. In Chemnitz wurde die AfD die stärkste Kraft mit einem Ergebnis von 24,26 %. Dahinter kam die CDU mit 21,32 % und die BSW mit 15,04 %. Die Wahlbeteiligung lag ungefähr bei 65 %. Wahrlich erschreckend, aber nicht verwunderlich. Nach den Wahlen stellen sich alle die Frage: Was ist mit Ostdeutschland los? Warum wählen die Bürger wieder extreme Parteien, und wie kam es von „Wir sind ein Volk“ zu übermäßiger Frustration gegenüber der deutschen Politik?
Zuerst: Was ist ein Ostdeutscher?
Seit vielen Jahren gibt es ein stigmatisiertes Bild von einem typischen Ostdeutschen. Er ist sehr konservativ, vermutlich rechtsextrem, hat immer etwas zu meckern, ist weniger demokratisch sozialisiert und gibt immer den anderen die Schuld für sein eigenes Leid. Es gibt bestimmt auch solche Bürger, und sie leben auch weitaus besser als manche andere, doch sie bilden nicht die Mehrheit. Natürlich ist das sehr pauschalisiert, aber die Medien framen gerne dieses Bild vom Ostdeutschen. Ich möchte euch gerne an das letzte Social-Media-Meme erinnern, den „Anzeigenhauptmeister“. Er ist ein Ossi, liebt Kontrolle sowie Anzeigen und findet das Sicherheitssystem von China klasse. Dieser Typ ist eine Goldgrube für die Presse. Der typische autokratische Ossi.
Aber jetzt mal Tacheles gesprochen. Hinter dem Bild eines stigmatisierten Ostdeutschen steckt schon ein Stück Wahrheit. Die Ostdeutschen sind sehr unzufrieden, und sie haben auch ein gutes Recht dazu. Die Ostdeutschen erlebten in der DDR eine unmenschliche Behandlung. Sie lebten ständig in gefühlter Instabilität. Sie standen meterlang für Produkte an, aber die meisten Regale in den Läden waren leer. Bei kritischen Äußerungen gegenüber dem Staat wurden die Ostdeutschen durch unterschiedliche Methoden von der Stasi(,,Staatssicherheit”) bespitzelt. Psycho-Terror sowie Verrat aus den engsten Kreisen durch Inoffizielle Mitarbeiter(IM) der Stasi waren ein typischer Alltag eines Ostdeutschen.
Dann kam der Moment: Die Mauer fiel. Menschen skandierten „Wir sind ein Volk“ und hofften, mit der Wiedervereinigung und dem Einzug der Demokratie Sicherheit zu erhalten, sei es sozial-wirtschaftlich oder physisch. Doch der nicht kapitalistisch angepasste Ostdeutsche war nicht darauf vorbereitet, mit dem schnell verändernden Welt mitzulaufen. Seht euch am Beispiel der Wirtschaft an. Die meisten Unternehmen in Ostdeutschland meldeten sich insolvent und die Arbeiter wurden dadurch arbeitslos. Westliche Unternehmen übernahmen die wirtschaftliche Dominanz in den östlichen Regionen Deutschlands. Viele hohe Posten, egal ob in der Wirtschaft oder Wissenschaft, wurden von den Wessis besetzt. Nach der Wiedervereinigung begann auch im Osten eine Aufarbeitung der NS-Geschichte. Was bis heute noch andauert. Die Krönung war dann die Ankunft von Gastarbeitern, die nach Ostdeutschland gebracht wurden und die verbleibenden Arbeitsplätze besetzten. Dies führte unter anderem zu einer hohen Unzufriedenheit und schließlich 1991 zur rechtsextremen Brandstiftung eines Flüchtlingsheims in Hoyerswerda.
Aus diesen Zutaten – Misstrauen gegenüber dem Staat, sozialer Schock bzw. mangelnde Anpassungsfähigkeit an die neue Gesellschaftsstruktur sowie der Mangel an Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte – entstand das stigmatisierte Bild eines Ostdeutschen.
Bernd das Brot, Frau Putinknecht und die ,,anständige” soziale Politik
Seit der Wiedervereinigung zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es immer noch ungelöste Probleme, wie zum Beispiel die Gehaltsunterschiede für die gleiche erbrachte Leistung. Im Osten verdient man weniger für die gleiche Arbeit als im Westen. Immer mehr ostdeutsche Unternehmen melden Insolvenz an, insbesondere seit dem Beginn der Corona-Pandemie, was auch zu erhöhter Arbeitslosigkeit führt. Auch die Spritpreiserhöhung, aus steuerlichen bzw. internationalen Gründen,belastet stark das Portemonnaie der ostdeutschen Bürger. Die meisten Bürger leben in ländlichen Regionen, und deshalb ist das Auto unverzichtbar, da der ÖPNV nicht ausreichend ausgebaut ist.
Die oben genannten Punkte sind klassische ,,linke” Themen. Diese werden jedoch kaum von linken Parteien wie der SPD, den Grünen oder der Linken in Ostdeutschland bearbeitet.
Es gibt auch gesellschaftliche Probleme wie marode Migrations- und Integrationspolitik sowie die Sicherheit vor links- und rechtsextremen sowie auch religiös-fundamentalistischen Verbrechen.
Diese Themen werden von Mitte-Rechts-Parteien wie der CDU oder der FDP übernommen, die jedoch auch keine überzeugenden Lösungen für die Ossis bieten. Ich könnte noch endlos weiter aufzählen.
Aus diesen genannten Gründen sind die AfD und die BSW bei uns beliebt, da sie erstens die Probleme ansprechen und zweitens Lösungen anbieten – unabhängig davon, ob die Lösungen gut sind oder nicht. Beide verkaufen sich als die „Arbeiterpartei“ für die Bevölkerung. Sie signalisieren beide, dass sie sich angeblich um ihre Wählerschaft kümmern. Das BSW hat in den diesjährigen sächsischen Landtagswahl-Umfragen einen Zuspruch von ca. 15%, ohne überhaupt ein Parteiprogramm zu haben! „Nu gloar, so gehd sächs’sche Politik!“
Anstatt dass sich die ehemals kommunistische, saure Vita Cola und das rechtsextreme, basische „Deutsche Reichsbräu“ (beide Getränke aus Ostdeutschland) gegenseitig neutralisieren, wirken sie stattdessen sehr ätzend auf unsere Demokratie.
Meine Gedanken dazu und was soll jetzt gemacht werden?
Ich fühle mich durch die Wahlumfragen-Werte eingeengt und bekomme den Eindruck, dass wir uns in der Zeit der Weimarer Republik befinden, als die KPD und NSDAP zunehmend an Macht gewannen und die Demokratie Stück für Stück zersetzten. Die Gesellschaft ist heute ähnlich tief gespalten. Daher sollten schwerwiegende Themen wie Migration, Wirtschaft oder Soziales wie die Rente von demokratischen Parteien von rechts bis links konstruktiv ausdiskutiert werden. Themen, die nur bestimmte Nischengruppen wie zum Beispiel betreffen, sollten an zweiter Stelle stehen. Leider gehört Antisemitismus oder LGBTQ auch mit dazu. Versteht mich nicht falsch, natürlich sind auch solche Themen wichtig. Doch die Themen tangieren gegenüber der Masse der Bevölkerung peripher. Nach vielen Jahren der Erinnerungsarbeit mit Stolpersteinen und Antisemitismusaktivismus mache ich mir große Sorgen um die demokratische Gesinnung der Bürger in Deutschland.
Ich habe erkannt, dass je schlechter es den Bürgern geht, desto weniger Bereitschaft sie zeigen, sich mit Themen wie Antisemitismus oder anderen Formen von Diskriminierung auseinanderzusetzen. Oder überhaupt irgendetwas außerhalb von seinem Tellerrand sich zu befassen. Denn der Durchschnittsbürger wird sich mit solchen Themen nicht beschäftigen wollen, wenn er Schwierigkeiten hat, seine Miete für den nächsten Monat zu bezahlen.
Ich bereite mich schon moralisch darauf vor, dass die demokratischen Parteien, auch wenn nicht direkt in einer Koalition, mit der AfD und/oder BSW zusammenarbeiten werden, zumindest auf kommunaler und Landesebene. Denn sonst wird nichts mehr durchsetzbar sein. Die AfD und BSW könnten bald die Mehrheiten in den meisten ostdeutschen Regionen nach den Landtagswahlen stellen, wenn nichts unternommen wird.
Was ist mein Fazit über die Lage?
Es wurden nicht alle Faktoren erläutert, warum die AfD und BSW so populär sind, aber die wichtigsten Schlussfolgerungen können bereits jetzt gezogen werden. Es genügt nicht mehr, nur Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir brauchen jetzt eine gute Politik, die die Bevölkerung beruhigt. Eine engere Beziehung zwischen Politikern und Bürgern wäre ebenfalls angebracht. Damit der Bürger das Gefühl bekommt, der Politiker kümmert sich um die Bedürfnisse seiner Wählerschaft.
Ein guter Start wäre, Vita Cola Original oder Vita Limo Exotic kostenlos zu verteilen. Sogar die grummlichsten Ossis kannste so mürbe machn. Ich bin jedenfalls üwwerzeucht!