Der 7. Oktober: Ein Tag, der niemals endet

13/10/24

Simona Cukerman, 1995 in Litauen geboren, immigrierte mit ihren Eltern Ende der 90er Jahre als jüdischer Kontingentflüchtling aus dem Ostblock nach Ostbayern. An der Uni Regensburg machte sie ihren Bachelor in der Germanistik, Medienwissenschaft und der Vergleichenden Kulturwissenschaft und begann zum Ende des Studiums ein Volontariat bei der Mediengruppe Attenkofer. Seit 2022 schreibt Cukerman dort als Redakteurin für die Seite 3 und die Onlineredaktion. Verbunden mit ihrem Hintergrund, interessiert sie sich vor allem für die Themen Migration und jüdisches Leben sowie für lebensnahe Geschichten, den Alltag und für die Menschen, die diesen füllen. 

Nach der Reportage „Der Freitag eines Rabbis“ wurde Cukerman von der Akademie der bayerischen Presse sowie der Bayerischen Staatskanzlei 2022 ein Stipendium in Tel Aviv angeboten. Dort begleitete sie das „Media Tel Aviv – israeli-european summit“.  Ihre Geschichte „Alles steht still“ wurde 2024 vom Presseclub Regensburg mit dem dritten Platz des Eberhard-Woll-Preises ausgezeichnet. 

Nach einem langen Tag schalte ich Netflix ein, stelle mir einen heiß aufgegossenen Tee neben mich und falle auf die Couch. Meist vergesse ich den Tee und trinke ihn erst eine Stunde später, wenn er bereits kalt ist. Was tröstet, ist, dass ein anstrengender Tag nicht länger als 24 Stunden dauern kann. Egal, wie ermüdend er ist, er ist irgendwann vorbei. Dann kommt ein neuer – das dachte ich zumindest früher. Mittlerweile weiß ich, dass mein längster Tag mindestens 8.760 Stunden umfassen kann. Unmöglich? Doch, doch. Denn als ich im vergangenen Jahr am 7. Oktober aufgewacht bin, bin ich danach zwar 365-mal eingeschlafen, aber immer wieder an demselben Tag aufgewacht. Wieso nimmt mich der 7. Oktober seit einem Jahr so sehr mit?

Ich erinnere mich an diesen Samstag so klar wie kaum an einen anderen. Als ich aufwachte, öffnete ich reflexhaft Instagram. Die ersten drei Storys checken, dann aufstehen. Doch das, was ich sah, versetzte meinen Kopf für den Rest des Tages in einen Nebel. Darin sah es plötzlich aus wie an jenem Herbstmorgen vor meinem Fenster.

Bis heute schwirrt in diesem Nebel Noa Argamani, wie sie von der Hamas auf einem Motorrad entführt wird. Wie sie schreit, weint. Naama Levy, wie sie in ihrer grauen, blutverschmierten Jogginghose von einem Auto gezerrt wird. Shani Louk, wie sie nackt und mit verrenkten Gliedmaßen auf einem Truck liegt. Wie sie bespuckt, getreten wird. 1.200 Namen, die leben, tanzen, atmen und im nächsten Moment tot auf der Erde liegen, zertreten zu Staub. 

Es brennt, explodiert; in meinen Ohren knallt und heult es. Dann schaukelt sich alles hoch. Es wird immer lauter. Alles, was passierte, drehte sich in meinem Kopf, während manche Köpfe alles umgedreht, Geschehenes zurechtgebogen, es verrenkt haben. Verharmlost und länderübergreifend gehetzt, die Traumata der Menschen vergessen haben – auf beiden Seiten. Den Terror zu einem Widerstand legitimiert haben.

Ich sehe die Angst in den Augen der Israelis und Juden auf der gesamten Welt. Auch in meinen Augen und in denen meiner Familie, als ich sage, dass ich meinen Davidstern nicht von meiner Kette nehmen will. Ich sehe Menschen im Club den Hitlergruß zeigen. Ich höre sie „Scheiß Jude“ sagen. Sehe sie die Geschichte vergessen.

Am liebsten hätte ich an jenem Morgen meine Augen wieder geschlossen; wäre wieder eingeschlafen, mit der Hoffnung, dass all das ein böser Traum war. Dass das, was daraufhin noch folgen sollte, gar nicht erst auftritt. Ich hätte den Tag lieber in der Illusion verbracht, dass wir schon weiter sind. Stattdessen hat mich der 7. Oktober meine Augen öffnen lassen. Hat mich erkennen lassen, dass wir heute – nicht nur 8.760 Stunden später – sondern seit 79 Jahren kaum einen Schritt weiter sind.

Und vor meinem Fenster steigt wieder Nebel auf, weil der Herbst wieder beginnt. Und nun frage ich mich, ob wir wie der Herbst sind, weil wir uns einfach immer nur wiederholen. Oder, ob wir wie der Nebel sind, weil wir uns immer wieder in der Geschichte auflösen.