80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz: 

Zwischen Erinnerungskultur, Geld und Verantwortungsbereitschaft

von Alexander Tsyterer

„Sie starben, damit ihr weiterlebt.“ Diesen Satz las ich jeden Tag auf einem Denkmal, als ich zu meinem Gymnasium im Park der Opfer des Faschismus ging, das direkt gegenüber des Gebäudes stand. Besonders am 27. Januar, am Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, versammelte sich immer eine Gruppe von Politikern, unabhängig von ihrem Parteibuch vor diesem Denkmal. Auch Lokalreporter und Schüler kamen. Sie alle legten Jahr für Jahr symbolisch große Blumenkränze nieder, während sie monotone Lieder spielten und Gedichte vortrugen. 

Ich fragte mich jedes Mal, was nach den Veranstaltungen hängen bleiben würde.  Die Blumen welkten bei den winterlichen Temperaturen schneller, als Mitbürger sie überhaupt wahrnehmen konnten. Fotos der anwesenden Politiker wurden Jahr für Jahr in Zeitungen abgedruckt und manifestierten sich so für alle Ewigkeit im Gedächtnis der Allgemeinheit. Was mich jedoch am meisten beschäftigte, war nicht dieser jährliche Zirkus. Vielmehr fragte ich mich, wie die Gesellschaft die Inschrift „Sie starben, damit ihr weiterlebt“ verstand. Trug sie deren Bedeutung wirklich in die Politik und Kultur, oder blieb sie nur eine für uns gewohnte, leere Floskel?

„Erinnerungskultur“, ein Märchen, das ich zu glauben versuchte

Wir hören jedes Jahr die immer gleichen Parolen und Floskeln. Doch noch nie habe ich meinen meistgehassten Ausdruck: „Nie wieder!“, so oft gehört wie im letzten Jahr. Überall erklang diese Phrase: im Parlament, auf Demonstrationen, von allen Seiten des politischen Spektrums – von links bis rechts. „Nie wieder!“ ist ein Aufruf an die Gesellschaft zum Handeln, eine moralische Selbstvergewisserung oder eine Proklamation bestimmter Gruppen wie zum Beispiel alle Rechte sind Nazis. Doch seit dem 7. Oktober gibt es ein Upgrade: Aus den zwei Worten wurden vier. „Nie wieder ist jetzt!“ Doch was bedeutet das eigentlich? Ich frage mich: Was gab es „davor“? Was bedeutet das „jetzt“? Und wird es überhaupt ein „danach“ geben?

Vor diesem „jetzt“ bestand die vielbeschworene „Erinnerungskultur“, die von Politikern immer wieder hochgelobt wird. Doch für mich persönlich ist diese Preisung kaum noch nachvollziehbar. Jedes Mal, wenn ich diesen Begriff höre, empfinde ich Unbehagen und Enttäuschung. Der Begriff ‚Erinnerungskultur‘ wirkt wie ein Euphemismus – eine beschönigende Floskel, die von der deutschen Gesellschaft geschaffen wurde, um den Anschein einer Aufarbeitung eigener Verbrechen zu wahren, während ähnliche Fehler weiterhin begangen werden. Wenn ich an ‚Kultur‘ denke, assoziiere ich automatisch etwas, das tief in einer Gesellschaft verankert ist, ein alltägliches Selbstverständnis – wie etwa das Oktoberfest oder den Karneval. Doch ein ehrlicher Blick auf die deutsche Geschichte zeigt, dass hier über viele Jahrzehnte eher eine ‚Kultur des Verschweigens‘ kultiviert wurde. Der Umgang mit der Vergangenheit war lange Zeit geprägt von Schweigen, Verdrängen und Vergessen, statt von einer konsequenten Aufarbeitung. Das wirft die Frage auf, ob ‚Erinnerungskultur‘ tatsächlich mehr ist als ein idealistischer Anspruch – und ob sie in der Lage ist, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen, das Wiederholungen verhindert. Erst in den 1960er Jahren begannen deutsche Familien, sich ernsthaft mit ihrer eigenen Vergangenheit und ihrer Rolle im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.

Vor dieser späten Aufarbeitung bestand Deutschlands Umgang mit seiner NS-Vergangenheit vor allem aus einer finanziellen Wiedergutmachung. Mit dem sogenannten „Wiedergutmachungsabkommen“ (1952/53) wurde der Versuch unternommen, die historische Schuld abzugelten – ohne dabei eine umfassende Aufarbeitung zu leisten. Vor allem die jüdischen Überlebenden des Holocausts, zahlenmäßig die größte Opfergruppe, erhielten Entschädigungszahlungen. Viele andere Opfergruppen blieben weitgehend unberücksichtigt oder wurden nur mit symbolischen Einmalzahlungen abgespeist: Sinti und Roma, die systematisch verfolgt und ermordet wurden, hatten jahrzehntelang zu kämpfen, um als Opfer anerkannt zu werden. Homosexuelle wurden erst nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen als Verfolgte des Nationalsozialismus akzeptiert. Zwangsarbeiter, Zeugen Jehovas, Überlebende von Ghettos und Massakern sowie viele osteuropäische Juden erhielten entweder nur minimale oder gar keine Entschädigungen.

Das „Erinnerungskultur-Kartenhaus“ bricht zusammen, sobald es um Verantwortung und Geld geht. Hier zeigt sich, wie oberflächlich diese sogenannte „Kultur“ in Wahrheit ist. Ein konkretes Beispiel kann ich aus Zeitz erzählen.

Stolpersteine, Spenden und ein Skandal – Erinnerungskultur im RTL-Format

In Zeitz, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, wurden am 7. Oktober letzten Jahres zehn Stolpersteine gestohlen. Die Tat löste einen lauten Aufschrei aus, und die Menschen vor Ort reagierten schnell. Der Burgenlandkreis startete einen Spendenaufruf, um 1.200 Euro für die Wiederbeschaffung der Stolpersteine zu sammeln. Der Plan war, überschüssige Gelder an das Simon-Rau-Zentrum in Weißenfels zu überweisen, das sich der Förderung der Geschichte des jüdischen Lebens im Burgenlandkreis widmet. Doch anstatt der angepeilten 1.200 Euro spendeten die Bürger unglaubliche 50.000 Euro.

Plötzlich wollte der Landkreis das Geld offenbar ungern an das Simon-Rau-Zentrum weitergeben. Stattdessen begann man, die Formulierung des ursprünglichen Spendenaufrufs zu hinterfragen und zu verändern. Der Bürgermeister von Zeitz, der Landrat des Burgenlandkreises und einige Politiker argumentierten, dass das Geld in Zeitz bleiben solle. Sie planten eine Jury einberufen, die über den Verwendungszweck der Spenden entscheiden sollte. Auch das Simon-Rau-Zentrum sollte in diese Jury einberufen werden – dieser Plan war jedoch nicht haltbar. Auf dem Fundraising-Schreiben stand schwarz auf weiß, dass das Geld an das Zentrum überwiesen werden sollte. Ansonsten würde sich der Verwendungszweck ändern und das Geld könnte von den Spendern wieder zurückgerufen werden.

Als Stolperstein-Aktivist und in meiner Rolle als Vorsitzender von JAM (Jüdische Allianz Mitteldeutschland) fühlte ich mich verpflichtet, zu intervenieren. Gemeinsam mit anderen appellierte ich an alle Beteiligten zur Vernunft zu kommen. Wir forderten, dass das Geld für die Aufklärung über Antisemitismus und die Bekämpfung von Rechtsextremismus in ländlichen Regionen verwendet werden solle. Diese Forderung wurde jedoch aus dem Kontext gerissen. Die Presse, darunter die „Mitteldeutsche Zeitung“ (MZ), berichteten fälschlicherweise, dass JAM selbst die Einrichtung der geplanten Jury gefordert hätte. Es war enttäuschend, dass die MZ, ohne uns anzuhören, einfach die Aussagen des Bürgermeisters übernahm. Zum Glück wandte sich das „Fundraising Magazin“ direkt an uns und stellte uns die entscheidende Frage: Haben wir gewusst, dass Spender ihre Spenden zurückfordern können, wenn sich der Zweck des Spendenaufrufs ändert?

Wir konnten die ursprünglichen Formulierungen des Spendenaufrufs klar und lückenlos nachweisen. 

Nach weiteren Verhandlungen und viel öffentlichem Druck erhielt das Simon-Rau-Zentrum schließlich das Geld. Es wurde, wie ursprünglich vorgesehen, für ein Projekt zur Förderung zur Aufklärung über das jüdische Leben im Burgenlandkreis verwendet. Doch wer denkt, die Sache sei damit erledigt gewesen, irrt gewaltig.

Am Tag der Verlegung der neuen Stolpersteine waren nur wenige Menschen anwesend, darunter ein Vertreter des Simon-Rau-Zentrums. Seine Anwesenheit wurde jedoch mit offensichtlicher Kälte aufgenommen. Niemand wollte mit ihm sprechen, und er wurde von den anderen Teilnehmern regelrecht ignoriert. Nach ein paar Reden und Erinnerungsfotos begann die eigentliche Verlegung der Stolpersteine. Doch nachdem der erste Stein verlegt worden war, verließen die meisten Anwesenden die Veranstaltung. Der Vertreter des Simon-Rau-Zentrums stand am Ende alleine bei verlegten Stolpersteinen.

Das ist alles, was ich zu dieser sogenannten „Erinnerungskultur“ sagen kann. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Dass demokratische Institutionen und Politiker versucht haben, den Spendenzweck zu ändern, oder dass sie die Spenden lieber für ein Volksfest verschwenden wollten.

Vergangenheit, Verantwortung, Hoffnung

An einem kleinen Beispiel wie Zeitz können wir erkennen, dass „Erinnerungskultur“ in unserer heutigen Zeit oft nur dazu genutzt wird, um sich moralisch auf der „richtigen Seite“ der Geschichte zu positionieren. Denkt ihr nicht, dass es am 27. Januar, am 8. Mai, am 9. November und jetzt auch am 7. Oktober immer wieder das Gleiche ist? Seit der 5. Klasse verlege ich Stolpersteine und beschäftige mich mit den Schicksalen der Opfer der Shoa. Für mich war und bleibt es selbstverständlich, an die Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern und Verantwortung zu übernehmen.

Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit, wie sie vom Simon-Rau-Zentrum (@simonrauzentrum) geleistet wird, ist wortwörtlich Arbeit – keine romantisierte „Kultur“. Diese Arbeit darf nicht allein auf den Schultern der Opfernachkommen oder einer kleinen Gruppe verantwortungsbewusster Demokraten lasten. Vielmehr muss daraus ein gesellschaftliches Selbstverständnis erwachsen.

Wichtig ist, dass diese Arbeit nicht aus einem Gefühl von Schuld entsteht, sondern aus dem freien Willen, Verantwortung als Demokraten zu übernehmen. Sie muss Ausdruck einer gesunden gelebten Demokratie sein, die ihre Werte ernst nimmt.

Und was kommt nach dem „Nie wieder ist jetzt“? Ehrlich gesagt, male ich für die Zukunft der deutschen Demokratie den Teufel an die Wand. Achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – was haben wir als Land der Dichter,Denker und Henker wirklich erreicht? Menschen, die vor Verfolgung und Krieg geflüchtet sind, die versucht haben, sich hier zu integrieren, werden menschenunwürdig abgeschoben, während Fanatiker wie Dschihadisten oder Graue Wölfe oft unbehelligt bleiben. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen enttäuscht von der Demokratie sind, wenden sich wieder extremen Parteien wie der AfD zu. Schaut nach Thüringen: Die AfD hält dort mittlerweile mehr als ein Drittel der Parlamentssitze.

Die Geschichte wiederholt sich – zumindest in Teilen. In einem Beitrag von Josef Schuster in der Tagesschau (9.11.2022, Erinnerung an Shoah muss bewahrt werden) wird berichtet, dass fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung sich mittlerweile dafür ausspricht, einen „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur zu ziehen.

Doch was bleibt dann? Denken wir an die in das Denkmal eingravierten Worte vom Anfang: „Sie sind gestorben, damit ihr weiterlebt.“ Aber wo und wie weiterleben? Hoffentlich in einer Demokratie, in der wir  als Menschen gleichwertig und in Würde zusammenleben können. Doch wenn die deutsche Gesellschaft tatsächlich diesen „Schlussstrich“ zieht, dann waren die Opfer – unsere Babuschkas, Deduschkas, Tjotkas und Djadjas – umsonst. Ihre Leben, ihre Opfer, ihre Kämpfe – all das wäre vergebens gewesen.

Und trotzdem – auch wenn es oft so dunkel aussieht – habe ich Hoffnung. Eine seltsame, aber unerschütterliche Hoffnung. Bei jedem Shabbaton, jeder Konferenz und jeder Veranstaltung sehe ich sie: eine Masse inspirierender, junger jüdischer Persönlichkeiten, die mehr Mut und Haltung zeigen als so mancher Politiker. Auch unsere Allies, die an unserer Seite stehen und uns beim Tragen dieser Bürde helfen, geben mir Hoffnung.

Wie ein weiser Mensch einmal sagte: „Auch in der Dunkelheit dürfen wir nicht vergessen, wieder zurück ins Licht zu kommen.“

Mit diesen Worten wünsche ich euch allen, meine lieben Leserinnen und Leser: Stay jewzy, habibis.