23/09/24
Simona Cukerman, 1995 in Litauen geboren, immigrierte mit ihren Eltern Ende der 90er Jahre als jüdischer Kontingentflüchtling aus dem Ostblock nach Ostbayern. An der Uni Regensburg machte sie ihren Bachelor in der Germanistik, Medienwissenschaft und der Vergleichenden Kulturwissenschaft und begann zum Ende des Studiums ein Volontariat bei der Mediengruppe Attenkofer. Seit 2022 schreibt Cukerman dort als Redakteurin für die Seite 3 und die Onlineredaktion. Verbunden mit ihrem Hintergrund, interessiert sie sich vor allem für die Themen Migration und jüdisches Leben sowie für lebensnahe Geschichten, den Alltag und für die Menschen, die diesen füllen.
Nach der Reportage „Der Freitag eines Rabbis“ wurde Cukerman von der Akademie der bayerischen Presse sowie der Bayerischen Staatskanzlei 2022 ein Stipendium in Tel Aviv angeboten. Dort begleitete sie das „Media Tel Aviv – israeli-european summit“. Ihre Geschichte „Alles steht still“ wurde 2024 vom Presseclub Regensburg mit dem dritten Platz des Eberhard-Woll-Preises ausgezeichnet.
Ist im Judentum mehr als nur Fingerspitzengefühl erlaubt?
In der Tora steht geschrieben, dass die Befriedigung einer Frau eine Mitzvah, also eines der 613 Gebote ist, die es Juden zu befolgen gilt. Doch dürfen dabei auch Sextoys ins Spiel kommen?
Im Nachhinein weiß man oft nicht, wann oder wie etwas angefangen hat. Wieso man sich manche Fragen stellt, die sich im Kopf festkrallen. Eine Sekunde zuvor hat sich noch jede Sehne, jeder Muskel angespannt im Körper, in der Hoffnung, danach einschlafen zu können. Der Kopf wurde für kurze Zeit leer. Jetzt ist der Aus-Knopf gedrückt. Das Toy liegt eine Armlänge entfernt. Die kühle Luft, die aus dem Fenster strömt, streichelt die Haut. Doch der gewünschte Effekt, dass man danach schneller einschläft, lässt auf sich warten. Der Kopf füllt sich wieder, schwemmt Gedanken an, wie das Meer, das in der Nacht alles Unnötige, was es in sich trägt, zu entsorgen versucht. Die Frage für diese Nacht: Dürfen Juden eigentlich Sextoys benutzen?
Um das zu beantworten, versuche ich zunächst die Beziehung zwischen Sexualität und Religion im Judentum zu verstehen. Und genau das hat mich locker 25 Google-Tabs öffnen und meinen Schlafrhythmus ruinieren lassen.
Koschere Sextoy-Verkäufer, Mirna Funk und ihre Sex-Kolumnen sowie das Jüdische Museum Berlin mit seiner Ausstellung „Sex. Jüdische Positionen“ werden mir vorgeschlagen. Der Weg zu meiner Erkenntnis gleicht einem Labyrinth. Noch sechs Stunden, bis der erste Wecker von meinen insgesamt sieben Schlummer-Funktionen klingelt.
Einerseits lese ich im Buch zur Ausstellung des Jüdischen Museums, dass es im ersten Kapitel der Genesis heißt: „seid fruchtbar und mehret euch“ – was Sex zur reinen Reproduktion herunterstuft und damit auch nur heterosexuellen Sex unter Verheirateten erlaubt, um Kinder zu zeugen. Blättert man zwei, drei Seiten im Buch zur Ausstellung weiter, steht, dass es eine Reihe von jüdischen Schriften gibt, die den Sex als einen transzendenten und göttlich inspirierten Akt darstellen. Lust, Begehren und Leidenschaft stünden hier im Vordergrund. In der Thora stehe zudem, dass es für einen Mann eine Mitzvah, also ein Gebot ist, seine Frau zu befriedigen. Es nenne sich das Gebot der Ona. Und in der kabbalistischen Schrift Iggeret ha-kodesch werde beschrieben, wie ein Mann seine Ehefrau erregen und befriedigen kann, wie er sie küssen und berühren soll – ein Sexratgeber aus dem Mittelalter quasi. Mein Zwischenfazit um 1 Uhr nachts: Judentum kann für verheiratete Paare sexy sein. Noch fünf Stunden, bis der Wecker klingelt.
Ob der Autor des Iggeret ha-kodesh einen Vibrator in seinen Brief der Liebkosungs-Tipps mitaufgenommen hätte, wenn es einen zu dieser Zeit bereits gegeben hätte? Vielleicht, denn es ist alles, wie so oft, reine Auslegungssache. Was das Judentum zum Thema Toys sagt, lässt sich vielleicht über die Webseiten beantworten, die koschere Sextoys anbieten.
Im Jahr 2011 haben Zeitungen darüber angefangen zu berichten, dass ein orthodoxer Jude einen koscheren Online-Shop eröffnet hat, der es religiösen Paaren ermöglichen soll, ihrem Intimleben mehr Schärfe zu verleihen. Ob der selbst noch ganz koscher ist, haben sich manche in der Community gefragt. Es sei nicht verkehrt, einen Vibrator zu benutzen, antwortete der Betreiber der New York Post. Doch es sei für einen orthodoxen Juden eine Plage, überhaupt einen zu finden. Nicht das Toy sei das Problem, sondern der Anblick von nackten Körpern auf den Verpackungen, der die in schwere, schwarze Wollmäntel gehüllten Männer rot werden lässt. Somit habe er kinky Sachen ganz konservativ auf seine Webseite gestellt – ohne dabei die orthodoxen Juden mit Bildern von nackter Haut zu konfrontieren.
Natürlich hat es Gegenstimmen gegeben. Sextoys seien grundsätzlich nicht koscher, meinten diese. Andere, so wie Rabbi Shmuley Boteach, Autor des Buches „Kosher Sex“ sagte der Daily Mail: „Das größte Missverständnis dieser Kultur ist, dass religiöse Menschen im Bett fromm sind. Tatsächlich wird orthodoxen jüdischen Paaren, sobald sie sich verlobt haben beigebracht, phänomenalen, laut schreienden Sex zu haben.“
Der Wecker klingelt in viereinhalb Stunden. Eine eindeutige Antwort? Die haben Rabbiner nur zu zwei Punkten: Dass der Sex einvernehmlich sein muss und dass der Ehemann seine Frau regelmäßig sexuell zu befriedigen hat. Eine eindeutige Antwort zu Sextoys finde ich in dieser Nacht nicht – oder ist sie mit dem biblischen Gebot der Ona gedeckt? Ob es mit den Sextoys im Judentum so ist wie mit den Meeresfrüchten, die man eigentlich nicht essen darf, weil sie nicht koscher sind und bei denen viele aber trotzdem ein Auge zudrücken? Vielleicht. Wer möchte denn nicht frischen Pulpo mit selbstgemachter Pasta in seinem Italienurlaub essen? Wer möchte denn nicht zu einem Orgasmus kommen? Vor allem, wenn nicht jedem reines Fingerspitzengefühl genügt. Schließlich gilt es doch die 613 Mitzvoth zu beachten. Nun frage ich mich jedoch, was wichtiger ist: das Gebot der Ona oder der Shabbes, an dem nichts vibrieren darf. Noch vier Stunden, bis der Wecker klingelt.