von Daniel Navon
Eine Begegnung am Donnerstagvormittag im Zelt
Es ist ein lauwarmer Donnerstagvormittag mit etwa 21 Grad an der Ecke der Jerusalemer Balfour-Straße. In einem Hinterraum eines großen Zeltes voller Utensilien hat es sich eine Katze zwischen Plakaten und Bildern der entführten israelischen Geiseln bequem gemacht. Während mich Tamar eintreten lässt und mir einen Sitzplatz anbietet, blickt sie auf Banner, die unter einem Tisch liegen. Heute Nacht sollen sie entlang der Strecke des bevorstehenden Jerusalem-Marathons verteilt werden, damit sie am morgigen Tag überall zu sehen sind, erzählt sie mir stolz.

Bild 1: eine Jerusalemer Straßenkatze macht es sich gemütlich im Utensilienzelt.
Tamar ist Jeruschalmit (gebürtige Jerusalemerin), Mutter von drei Kindern, darunter ein Reservist, sowie ehrenamtliche Leiterin einer Bewegung, die in einem Zelt direkt vor Bet Aghion, der offiziellen Residenz des israelischen Premierministers, ihren Hauptsitz hat. Die Rede ist vom Jerusalemer Ableger der Organisation „The Hostages and Missing Families Forum“. Das Forum ist für seine politische Arbeit in der Knesset, für die wöchentlichen Demonstrationen am „Platz der Geiseln und Vermissten“ in Tel Aviv sowie in Jerusalem bekannt und betreibt eine globale Kampagne unter dem Motto „Bring Them Home Now“, die inzwischen auf Instagram beinahe eine halbe Million Follower zählt.
Die Ursprünge des Jerusalemer Ablegers
Die Bewegung in Jerusalem sei von Menschen wie ihr initiiert worden, erzählt mir Tamar. Einen Tag nach dem barbarischen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, fragten sich viele, wie sie helfen könnten. Sie begannen, Fotos von Verschleppten zu drucken, auch von jenen, die zu diesem Zeitpunkt oft noch als verschollen galten. Diese Bilder wurden überall aufgehängt. Auch für Tamar wurde dies zum Einstieg in den Aktivismus.
Ende Dezember 2023, nach dem Ende des ersten Geiseldeals, errichteten Familien von Entführten vor der Residenz des Premierministers Zelte, in denen sie auch übernachteten. An Tag 117 veröffentlichte die „Bring Hersh Home“-Initiative, die sich für den inzwischen ermordeten Hersh Goldberg-Polin engagierte, ein Video auf Instagram vom Zelt und rief die Menschen zur Beteiligung auf. Die zentrale Forderung: ein Deal zur Freilassung aller Geiseln. Als die Familien später weiterzogen, übernahmen Aktivistinnen und Aktivisten den Platz, das Zelt wuchs stetig.

Bild 2: Das Zelt an der Ecke der Balfour-Straße in unmittelbarer Nähe zur offiziellen Residenz des israelischen Premierministers.
Engagement in der religiösen Stadt
Tamar hat zunächst bei kleinen Aufgaben ausgeholfen, sie übernahm aber immer mehr Verantwortung. Ende September 2024 zog schließlich die bisherige Leiterin studienbedingt nach Frankreich und Tamar übernahm gemeinsam mit Giora, einem weiteren Aktivisten, die Leitung. Auf die Frage, wie sie dies zeitlich stemmt, antwortet sie, sie habe das Privileg, sich diese Ehrenamtsarbeit leisten zu können. Viele andere Ehrenamtliche stehen jedoch, wenn sie keine Rentner sind, mitten im Arbeitsleben oder studieren und finden dennoch Zeit zum Engagement. Davor hege sie größten Respekt.
Tamar fällt besonders auf, dass relativ wenige Männer aktiv sind und – gemessen an der Bevölkerungsstruktur Jerusalems – nur wenige religiöse Menschen. Eine Erklärung für das zweite Phänomen, glaubt Tamar, sei die anhaltende politische Polarisierung, die bereits vor dem 7. Oktober in Israel geherrscht habe und sich nicht in Luft auflöste: Manche würden den Aktivismus des Forums als „regierungsfeindlich“ wahrnehmen. Der Bewegung wird von Einzelnen unterstellt, sie hätten andere Motive als die Geiselbefreiung, wie etwa den „Sturz der Regierung“. Und dass man politisch-tendenziös sei. Diese Vorwürfe verfangen bei einigen Menschen. Dabei verstehe sich die Bewegung als überparteilich, mit einem Hauptaugenmerk auf die Rückkehr der Geiseln.
Es gäbe aber positive Entwicklungen in der Zusammenarbeit mit religiösen Akteuren: So organisiert der religiöse Zvi Zussman, dessen Sohn am 3. Dezember 2023 nach dem ersten Deal als Soldat im Krieg gefallen ist, regelmäßig sogenannte „Shabbat für die Geiseln“, um insbesondere religiöse Menschen einzubinden. Nach und nach, so Tamar, fänden auch mehr religiöse Bürgerinnen und Bürger zur Bewegung.

Bild 3: Die „Haggada der Freiheit“, herausgegeben vom Forum der Geisel- und Vermisstenfamilien, enthält persönliche Geschichten israelischer Geiseln neben den traditionellen Pessach-Erzählungen.
Gemischte Resonanz aus der Bevölkerung
Daraufhin sprechen wir über nicht-Aktive und die Resonanz aus der Stadtbevölkerung. Grundsätzlich, sagt Tamar, spüre sie viel Zuspruch. Viele Menschen kommen mit Kommentaren wie „Ich bete jeden Tag für die Geiseln“ oder „Macht weiter so“. Zudem organisieren sie regelmäßig Veranstaltungen. Dabei treffe man immer wieder Leute, die von der Arbeit so berührt sind, dass sie sich selbst in ihrem Umfeld organisieren.
Eine lautstarke Minderheit reagiert allerdings ablehnend. Tamar erzählt, dass man dem Forum etwa vorwerfe, ihr lauter Protest spiele nur der Hamas in die Hände: Ohne diesen sichtbaren Aktivismus und den Druck seitens des Forums auf die israelische Regierung würde die Hamas kapitulieren. Tamar widerspricht dem Vorwurf entschieden und nennt ihn faktisch falsch: „Ich bin sicher, dass, wenn wir leise gewesen wären, [in Bezug auf die Geiselbefreiungen] nichts passiert wäre.“
Parallel zum innerisraelischen Aktivismus engagiert sich das Forum auch international und hat unter anderem im Februar 2024 eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof gegen die Führung der Hamas eingereicht. Damit soll der Druck erhöht werden, um die Freilassung der Geiseln zu erreichen.

Bild 4: Mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Merch-Artikel werden die Familien der Geiseln unterstützt sowie die Aufklärungsarbeit und die politische Arbeit des Forums zur Rückkehr der Geiseln finanziert.
Politische Forderungen
Auf meine Frage nach ihrer zentralen politischen Forderung antwortet Tamar in drei Worten: „Heskem maleh achschaw“ („Ein vollständiger Deal jetzt“). Damit meint sie eine sofortige Rückkehr aller Geiseln auf einen Schlag.
Tamar verweist auf das unterzeichnete Abkommen zwischen Israel und der Hamas und nimmt damit Bezug auf einen Drei-Phasen-Deal, dessen erste Phase Mitte Januar 2025 begann und 33 Geiseln nach Israel zurückbrachte – im Gegenzug zu einer Waffenruhe sowie der Freilassung von etwa 1.900 palästinensischen Gefangenen. Die zweite Phase sah die Befreiung aller Geiseln sowie einen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen vor.
Bevor es dazu kommen konnte, wurde Anfang März dem US-Nahost-Sondergesandten Steve Witkoff ein Entwurf vorgelegt, der eine Verlängerung der ersten Phase vorsah: die Freilassung von fünf lebenden Geiseln sowie die Herausgabe der sterblichen Überreste von etwa neun Entführten, was eine mehrwöchige Verschiebung eines in seinen Details noch zu konkretisierenden langfristigen Waffenstillstands bedeutet hätte. Die Terrororganisation bestand hingegen auf einem vollständigen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen, bevor sie weitere Geiseln freiließ. Nach der Ablehnung dieses Vorschlags durch die Hamas nahm Israel die Kämpfe im Gazastreifen wieder auf. Das Familienforum für Geiseln zeigte sich daraufhin entsetzt und kritisierte die israelische Regierung scharf.
Tamar betont, dass sich die Befreiung der Geiseln und das militärische Ziel der Zerschlagung der Hamas nicht im Widerspruch stünden. Laut ihr wissen viele in Israel, dass man die Geiseln zurückbringen und anschließend weiter gegen die Hamas kämpfen könne.
Derweil drohte die Hamas immer wieder, israelische Geiseln zu töten, sollten weitere Kämpfe aufgenommen werden.
Performative Optimism
Zum Abschluss des Gespräches spricht Tamar von einem historischen Trauma Israels, dessen ganze Wirkung noch gar nicht absehbar sei.
Auf die Frage nach ihrer eigenen Zukunftsperspektive gesteht Tamar einen gewissen Pessimismus und das aus unterschiedlichen Gründen. „Ich sehe die Richtung, in die sich alles entwickelt.“
Dennoch fühlt sie sich als Aktivistin und Mutter verpflichtet, einen „performative Optimism“ zu leben, wie sie es scherzhaft bezeichnet – selbst dann, wenn ihr dies persönlich schwerfällt. „Es gehört zu meiner Verantwortung, Optimismus aufrechtzuerhalten.“

Bild 5: Mitten im Zelt findet sich ein Herz aus Bildern der Geiseln: in Schwarz-Weiß sind die Bilder von jenen Geiseln, die noch in Gaza festgehalten werden, während die Bilder der befreiten Geiseln in Farbe sind. Bei den Bildern der Verstorbenen wurden zusätzlich kleine Herzen gemalt.