Heilung und Wiederaufbau durch Gartenarbeit: Interview mit den Organisator:innen des Kooperationsprojekts von Venatata und Taglit-Birthright in Be’eri-Hatzerim

An einem bewölkten Frühlingstag in der israelischen Negev-Wüste hat Daniel Navon, Vorstandsmitglied und Koordinator im VJSH, drei Organisator:innen eines Kooperationsprojektes von Venatata und Taglit-Birthright zur Begrünung von Kibbutz Be’eri-Hatzerim interviewt.

Interview während der Arbeit

Raz muss ab und zu ans Handy, weil er während unseres spontanen Interviews gleichzeitig die gesamte Arbeit vor Ort koordinieren muss. Die Baumsetzlinge wurden noch nicht geliefert; dabei sind heute in Be’eri-Hatzerim bei Be’er Scheva Hunderte von Taglit-Ehrenamtlichen angekommen – Jüdinnen und Juden aus der Diaspora, die mit Taglit-Eimerhüten, Gartenhandschuhen und dick aufgetragener Sonnencreme nur darauf warten, bei der Begrünung mit anzupacken.

Raz erzählt mir, dass er aus Moshav Ge’a stammt, südwestlich von Ashkelon und damit nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Er selbst hat Familie, die in Kfar Azza lebt – einem der am 7. Oktober betroffenen Kibbutzim. An diesem Tag verlor Raz ein Familienmitglied. Heute leitet er innerhalb der Organisation Venatata (Hebräisch für „und du sollst pflanzen!“) ein Kooperationsprojekt mit Taglit-Birthright zur Begrünung des Kibbutz Be‘eri-Hatzerim – dazu gehören Rasen, Setzlinge, Blumen etc.

Bild: Taglit-Volunteering-Teilnehmende tragen zu verpflanzende Baumsetzlinge zu den Gärten der Kibbutz-Einwohner.

Zerstörung und Umsiedlung von Be’eri

„Wir machen es den Menschen hier angenehmer zu leben“, erzählt mir Raz. „Vorher gab es hier nichts, und die Einwohner litten unter den Sandstürmen.“

Die etwa 250 Häuser im Kibbutz Be’eri-Hatzerim wurden für die Menschen des etwa 35 km vom neuen Ort entfernten Kibbutz Be‘eri errichtet, berichtet mir Raz im Laufe des Gesprächs.

Am Morgen des 7. Oktobers 2023 betraten die Hamas-Terroristen Kibbutz Be’eri, gingen von Haus zu Haus und verübten dort ein Massaker gezielt und systematisch gegen israelische Zivilisten: 102 Kibbutz-Mitglieder, ein Zehntel der Kibbutz-Gemeinschaft, wurden ermordet. Das jüngste Opfer, Mila Cohen, war 10 Monate alt und das älteste Opfer, Hana Kritzman, war 88 Jahre alt. Zudem wurden 30 Kibbutz-Einwohner verschleppt, von denen alle, die am Leben sind, mittlerweile befreit wurden. Während sich die Kibbutz-Mitglieder in den MAMAD-Räumen, den in den israelischen Wohnungen eingebauten Schutzräumen, verschanzten und stundenlang auf die israelische Armee warteten, verschafften sich die Hamas-Terroristen mittels Schusswaffen, Handgranaten und Feuer Zugang zu den Räumen. Dabei wurden mehrere Häuser vollständig in Flammen gesetzt und mehr als ein Drittel aller Wohneinheiten zerstört.

Nach der Befreiung Be‘eris wurden die Einwohnerinnen und Einwohner evakuiert und beinahe ein Jahr lang in einem Hotel am Toten Meer untergebracht. Nur mit politischem Druck konnte die Kibbutz-Gemeinschaft erreichen, dass sie nun für vier Jahre hier vorübergehend leben kann.

700 Menschen aus dem ursprünglichen Kibbutz werden hier leben – viele sind bereits eingezogen – und jenen agrarwirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen, die sie vor dem 7. Oktober zusammengehalten haben, erzählt mir Raz.

Auf die Frage, ob es für die anderen verwüsteten Kibbutzim ähnliche Projekte gebe, erwidert er: „Nein, dieser Kibbutz hat viel drum gekämpft.“ Es hatte viel politischen Druck gebraucht, bis die Regierung dies ermöglicht und mitfinanziert hat.

Bild: Das offizielle Schild des ursprünglichen Kibbutz Be‘eri wird auch im neuen Ort gezeigt, im Vordergrund des Bildes finden sich die gelben Flaggen in Solidarität mit den noch festgehaltenen Geiseln.

Die Arbeit der NGO Venatata

Als Gärtner sowie Yoga-Lehrer mit langjähriger Erfahrung berichtet er mir von der Mission der Organisation Venatata, die seine Lebensbahn gut widerspiegelt:

Die 2019 gegründete NGO strebt an, in ganz Israel „Waldstädte“ (Yirei Ya‘ar) zu schaffen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Neben der Begrünung von Großstädten und der massenhaften Baumbepflanzung umfasst ihr Konzept auch umfangreiche Gemeinschaftsarbeit sowie therapeutische Gärten. Die gesellschaftliche Solidarität und die Unterstützung marginalisierter Gruppen in Israel genießen im Tätigkeitsumfang von Venatata hohe Priorität. Dazu gehören ältere Menschen und Holocaust-Überlebende, gefährdete Jugendliche, Neueinwanderer, Soldaten mit PTBS, Menschen mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen, Opfer sexueller Übergriffe sowie Randgruppen in der sozialen und geografischen Peripherie Israels.

Die gesundheitlichen Vorteile der therapeutischen Gartenarbeit

Später ergänzt Dorielle Rimmer, Geschäftsführerin von Venatata, mit der ich am selben Tag sprechen konnte:

Die NGO hat in über 100 Rehabilitationseinrichtungen im ganzen Land therapeutische Gärten aufgebaut. Dabei werden geschulte Therapeuten und spezialisierte Sozialarbeiter eingesetzt, um anerkannte Methoden anzuwenden. Studien haben gezeigt, dass Gartenarbeit – also das Pflanzen und Säen – positive Effekte auf die mentale und körperliche Gesundheit hat. So belegt etwa eine Studie der Universitäten Westminster und Essex aus dem Jahr 2010, dass Gartenarbeit zu Stressreduktion führen kann. Dorielle sagt, dass es belebend wirkt, wenn man sieht, wie die gepflanzten Setzlinge wachsen.

Sie berichtet weiter über die Entwicklung des Angebots des NGOs: 

Insbesondere im Rahmen der Corona-Pandemie hat man durch die Kooperation mit Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen schnell erkannt, wie sehr marginalisierte Gruppen und ältere Menschen in Isolation gerieten – aber auch, wie gut ihnen die Gartenarbeit tat. Nach dem 7. Oktober bekam diese Arbeit eine neue Bedeutung: Nun wurde mit Menschen aus den Kibbutzim im Gaza-Envelope gearbeitet, die ein Massaker überlebt und dabei Freunde sowie Familienangehörige verloren hatten.

Bild: Taglit-Volunteering-Teilnehmende tragen Blumensetzlinge zu den Gärten der Kibbutz-Einwohnern.

Trauma und Empowerment: Taglits Post-7.10.-Ansatz

Ich spreche das Thema der Retraumatisierung der gesamten jüdischen Gemeinschaft mit Ohad Yron an, dem Leiter für Nachhaltigkeit bei Taglit-Birthright Israel, der ebenfalls an diesem Tag vor Ort ist.

Für Ohad steht fest: Das Massaker am 7. Oktober ist keine jüdische Geschichte – es ist eine Hamas-Geschichte. Das, was eine Stunde später geschah, ist jedoch eine jüdische Geschichte: 

Der Einzug von 200.000 israelischen Reservisten – darunter viele, die direkt aus dem Ausland eingeflogen sind – sowie die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen und die Taglit-Volunteering-Teilnehmenden, die nach Israel kamen, um sich heute ehrenamtlich zu engagieren.

Nach dem 7. Oktober 2023 hat man sich bei Taglit gefragt, wie diese Themen aufgegriffen werden können. Man wollte junge Jüdinnen und Juden in der Diaspora, die sich intensiv mit Fragen rund um ihre jüdische Identität, ihre Beziehung zu Israel und Antisemitismus in den Campussen  beschäftigen, nicht traumatisieren, indem der Ort des Massakers – sei es bei den Kibbutzim, in Sderot oder beim Novafestival-Platz – in den Mittelpunkt gestellt wird. Taglit wollte weder den Fokus auf das Trauma und den Schock legen noch das herkömmliche Narrativ von „they tried to kill us, we survived, let’s eat“ betonen.

Vielmehr stellt man den Wiederaufbau Israels in den Mittelpunkt, an dem Jüdinnen und Juden aus der Diaspora teilhaben können. Das Birthright sollte durch eine Birthresponsibility ergänzt werden. Nur wenige Wochen nach dem 7. Oktober 2023 wurde so Taglit-Volunteering ins Leben gerufen.

Bild: Nach kurzer Einweisung von Venatata-Mitarbeitende graben die Taglit-Volunteering-Teilnehmende Erdlöcher für die großen Setzlinge und befüllen diese mit Dünger.

„Triple Impact“ Strategie und Ausblick

Ohad spricht von einer „Tripple Impact“ Strategie, bei der drei Gruppen durch die Zusammenarbeit mit Venatata profitieren sollen:

Zum einen stärkt man die Taglit-Teilnehmenden, die durch die Bepflanzung einen Sinn für Selbstermächtigung entwickeln – man führt sie damit von einem Moment der Hilflosigkeit in einen Moment des Empowerments und stärkt dabei die Solidarität zwischen israelischen Jüdinnen und Juden sowie der Diaspora.

Gleichzeitig unterstützt man israelische, hilfsbedürftige Gemeinschaften. Zuletzt geht es natürlich auch um die Umwelt: Taglit lebt gerade von den Flügen von Jüdinnen und Juden aus der Diaspora nach Israel und hat damit einen enormen CO₂-Fußabdruck. Diesen Ausstoß auszugleichen, erreicht man durch das Pflanzen von Tausenden von Bäumen. Nach aktuellem Stand hat Taglit 3.000 Bäume gepflanzt und 60 therapeutische Gärten errichtet; gemeinsam mit Venatata und den Ehrenamtlichen sollen insgesamt 300 therapeutische Gärten entstehen. Bis 2030 strebt man eine Reduktion der CO₂-Emissionen um 30 % an.

Zum Abschluss des Gesprächs mit Raz, dem Leiter des örtlichen Projektes, erzählt er mir, dass es, solange der Krieg andauert, gefährlich sei, nach Beeri zurückzukehren: Viele Häuser seien zudem abgebrannt und der Kibbutz müsse wiederaufgebaut werden. Bis zur Rückkehr soll den Menschen hier in Beeri-Hatzerim ein möglichst angenehmes Leben, das sie an ihre alte Heimat erinnert, ermöglicht werden.

Bild: Taglit-Volunteering-Teilnehmende verpflanzen die Blumensetzlinge in den Gärten der Kibbutz-Einwohnern. Die Setzlinge müssen auf einer Ebene mit der umgebenden Erde sein, während die Wurzeln vollständig von Erde bedeckt sein müssen.

English:

Healing and Rebuilding through Gardening: Interview with the Organizers of the Cooperation Project by Venatata and Taglit-Birthright in Be’eri-Hatzerim

On a cloudy spring day in Israel’s Negev Desert, VJSH board member and coordinator Daniel Navon interviewed three organizers of a cooperative greening project by Venatata and Taglit-Birthright at Kibbutz Be’eri-Hatzerim.

Interview While at Work

Raz has to answer his phone from time to time because he’s coordinating all the work on site while we have a spontaneous interview. The tree seedlings haven’t yet been delivered, even though hundreds of Taglit volunteers have arrived today in Be’eri-Hatzerim near Be’er Sheva—Jews from the Diaspora who, wearing Taglit bucket hats, gardening gloves, and thickly applied sunscreen, are eager to get involved in the greening efforts.

Raz tells me he’s from Moshav Ge’a, southwest of Ashkelon and only a few kilometers from the Gaza Strip. He himself has family living in Kfar Azza, one of the kibbutzim affected on October 7. Raz lost a family member on that day. Now, he heads a cooperation project within the Venatata organization (Hebrew for “and you shall plant!”) with Taglit-Birthright to green Kibbutz Be’eri-Hatzerim—including lawns, seedlings, flowers, and more.

Photo: Taglit-Volunteering participants carrying tree seedlings to be transplanted into the gardens of kibbutz residents.

Destruction and Relocation of Be’eri

“We’re making it nicer for people to live here,” Raz tells me. “Before, there was nothing here, and the residents suffered from sandstorms.”

According to Raz, around 250 houses in Kibbutz Be’eri-Hatzerim have been built for the people of Kibbutz Be’eri, which is about 35 km away from this new location.

On the morning of October 7, 2023, Hamas terrorists entered Kibbutz Be’eri, going from house to house and carrying out a massacre systematically targeting Israeli civilians: 102 kibbutz members, one tenth of the entire kibbutz community, were murdered. The youngest victim, Mila Cohen, was 10 months old; the oldest victim, Hana Kritzman, was 88. In addition, 30 kibbutz residents were abducted, all of whom—those still alive—have since been freed. While the kibbutz members barricaded themselves in the MAMAD rooms—protected spaces built into Israeli homes—and waited for hours for the Israeli army, the Hamas terrorists used firearms, grenades, and fire to break in. Several houses were burned to the ground in the process, and more than a third of all residential units were destroyed.

After Be’eri was liberated, the residents were evacuated and spent almost a year in a hotel at the Dead Sea. Only with political pressure the kibbutz community was able to ensure that they can now live here temporarily for four years.

Raz explains that 700 people from the original kibbutz will live here—many have already moved in—and will resume the agricultural activities that held them together before October 7.

When asked if similar projects exist for the other devastated kibbutzim, he replies, “No, this kibbutz fought hard for it.” It took a great deal of political pressure before the government made this possible and helped fund it.

Photo: The official sign from the original Kibbutz Be’eri is also displayed at the new site, with yellow flags in the foreground showing solidarity with the hostages still being held.

The Work of the NGO Venatata

A gardener with 15 years of experience and a yoga instructor with 20, Raz tells me about the mission of Venatata, an organization that aligns well with his own life path:

Founded in 2019, the NGO aims to create “forest cities” (Yirei Ya‘ar) throughout Israel to combat climate change. In addition to greening major cities and planting large numbers of trees, its work also involves extensive community engagement and therapeutic gardens. Social solidarity and support for marginalized groups in Israel are high priorities within Venatata’s scope of work. This includes senior citizens and Holocaust survivors, at-risk youth, new immigrants, soldiers with PTSD, people with disabilities and special needs, victims of sexual assault, as well as geographically and socially marginalized groups in Israel.

The Health Benefits of Therapeutic Gardening

Later, I speak with Dorielle Rimmer, CEO of Venatata, on the same day. She explains:

The NGO has set up therapeutic gardens in more than 100 rehabilitation facilities across the country, where specially trained therapists and social workers use proven methods. Studies have shown that gardening—planting and sowing—has positive effects on both mental and physical health. For instance, a 2010 study by the Universities of Westminster and Essex found that gardening can reduce stress. Dorielle says it’s invigorating to watch the seedlings you’ve planted grow.

She goes on to talk about the NGO’s evolving offerings:
Especially during the COVID-19 pandemic, working with hospitals and rehab facilities revealed how marginalized groups and senior citizens were becoming isolated—and also how much they benefited from gardening. After October 7, this work took on a new significance: Venatata began working with people from the kibbutzim in the Gaza Envelope who survived the massacre and lost friends and family members.

Photo: Taglit-Volunteering participants carrying flowers to be planted in the gardens of kibbutz residents.

Trauma and Empowerment: Taglit’s Post-October 7 Approach

I address the subject of retraumatization throughout the entire Jewish community with Ohad Yron, the Director of Sustainability at Taglit-Birthright Israel, who is also on site that day.

For Ohad, it’s clear: The massacre on October 7 is not a Jewish story—it’s a Hamas story. But what happened one hour later is a Jewish story: The mobilization of 200,000 Israeli reservists—many of whom flew in from abroad—and the numerous civil-society initiatives, along with the Taglit-Volunteering participants who came to Israel to volunteer.

After October 7, 2023, Taglit asked itself how to address these events. They didn’t want to traumatize young Jews in the Diaspora who are already deeply engaged with questions about their Jewish identity, their relationship to Israel, and antisemitism on college campuses by focusing on the site of the massacre—whether at the kibbutzim, in Sderot, or at the Nova Festival grounds. Neither did they want to spotlight the trauma and shock nor revert to the usual narrative of “they tried to kill us, we survived, let’s eat.”

Instead, they wanted to emphasize the rebuilding of Israel, in which Jews from the Diaspora can participate. Birthright should be complemented by a “Birthresponsibility.” Just a few weeks after October 7, 2023, Taglit-Volunteering was launched.

Photo: After a brief introduction from Venatata staff, Taglit-Volunteering participants dig holes for the large seedlings, filling them with fertilizer.

“Triple Impact” Strategy and Outlook

Ohad speaks of a “Triple Impact” strategy in collaboration with Venatata that benefits three groups:

  1. Taglit participants, who gain a sense of empowerment through planting—shifting from a moment of helplessness to a moment of empowerment, strengthening solidarity between Israeli Jews and those in the Diaspora.
  2. Vulnerable Israeli communities, which receive support.
  3. The environment: Taglit relies heavily on flights bringing Jews from the Diaspora to Israel and therefore has a large CO₂ footprint. Planting thousands of trees helps to offset these emissions. Currently, Taglit has planted 3,000 trees and established 60 therapeutic gardens; together with Venatata and volunteers, a total of 300 therapeutic gardens are planned. By 2030, they aim to reduce CO₂ emissions by 30%.

At the end of my conversation with Raz, the local project leader, he tells me that, as long as the war continues, it’s too dangerous to return to Be’eri: many houses have been burned, and the kibbutz must be rebuilt. Until they can return, the aim in Be’eri-Hatzerim is to help people live as comfortably as possible in a place that reminds them of their old home.

Photo: Taglit-Volunteering participants planting flowers in the gardens of kibbutz residents. The flowers must be level with the surrounding soil, while their roots must be completely covered with earth.