Ein Essay von Lisa Bortels
Trotz Hoffnungen auf Entspannung bleibt Syrien ein Land im Ausnahmezustand, besonders im Süden, in Suwaida, der Hochburg der syrischen Drusen. Dort liefern sich drusische Milizen und Beduinen blutige Kämpfe mit hunderten Toten. Der offiziell verkündete Waffenstillstand wird regelmäßig gebrochen. Extremistische Gruppen wie die HTS, angeführt vom ehemaligen al-Qaida-Kommandeur Abu Mohammad al-Julani, kontrollieren Teile der Region und verbreiten Angst. Die syrische Armee zieht sich zurück, lokale Machthaber ringen um die Macht, und Israel greift militärisch ein. Suwaida galt lange als sicherer Rückzugsort, doch dieser fragile Frieden ist zerbrochen. Familien verlieren Angehörige, während internationale Institutionen schweigen. Drusische Gemeinden in Israel, etwa 150.000 Menschen stark, versuchen verzweifelt, Gehör zu finden. Dieses globale Schweigen ist nicht nur ohnmächtig, sondern hat tödliche Konsequenzen.Die Drusen sind eine arabischsprachige religiöse Minderheit mit jahrhundertealter Tradition in Syrien, vor allem in Suwaida. Sie leben zurückgezogen, bewahren ihre kulturelle Identität und galten lange als loyal gegenüber dem Assad-Regime, nicht aus Überzeugung, sondern aus dem Bedürfnis nach Schutz. Doch mit dem Zerfall staatlicher Strukturen ist diese Sicherheit verschwunden. Seit Ende 2024, als Präsident Assad laut Medienberichten ins russische Exil ging, herrscht vielerorts ein Machtvakuum. Warlords, Milizen und regionale Machthaber haben die Kontrolle übernommen. Für Minderheiten wie die Drusen bedeutet das: akute Bedrohung, fehlender Schutz und zunehmende Gewalt.Vor diesem Hintergrund erscheint die geplante Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Syrien als problematisch und widersprüchlich. Offiziell wird dies mit einer vermeintlichen Stabilisierung der Lage begründet. Die tatsächliche Situation vor Ort widerspricht jedoch dieser Darstellung: Syrien bleibt ein von Konflikten, staatlicher Fragmentierung und Sicherheitsrisiken geprägtes Land, in dem Rechtlosigkeit und willkürliche Gewalt an der Tagesordnung sind. Insbesondere für Angehörige religiöser Minderheiten bedeutet eine Rückkehr eine erhöhte Gefahr von Verfolgung, Folter oder im schlimmsten Fall Tod. Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen dokumentieren systematische Diskriminierung und gewaltsame Repressionen gegen diese Gruppen. Unter solchen Bedingungen sind Abschiebungen nicht nur eine Verletzung grundlegender menschenrechtlicher Prinzipien, sondern auch ein unverantwortliches Vorgehen, das das Leben und die Sicherheit der Betroffenen massiv gefährdet. Diese Praxis steht im Widerspruch zu internationalen Schutzverpflichtungen und wirft dringende ethische und rechtliche Fragen auf. Das Problem manifestiert sich nicht nur in der politischen Ebene, sondern zeigt sich auch im weitgehenden Schweigen zahlreicher gesellschaftlicher Akteur:innen, die sich ansonsten für Geflüchtete, Minderheitenrechte und Antirassismus engagieren. Besonders auffällig ist, dass das Leid der Drusen in den medialen Diskursen und öffentlichen Debatten kaum Relevanz erhält. Solidarität wird in westlichen Gesellschaften häufig als grundlegendes moralisches Prinzip verstanden, doch ihre praktische Umsetzung erfolgt selten universell oder konsistent. So erfahren beispielsweise Palästinenser:innen in der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Unterstützung vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit, während andere Minderheiten wie Drusen, Jesid:innen, Kurd:innen oder Bahai trotz ähnlicher Bedrohungslagen weitgehend unsichtbar bleiben.Diese selektive Solidarität ist nicht als bloßer Mangel an Empathie zu verstehen, sondern als Ausdruck komplexer sozialer, politischer und medialer Dynamiken. Solidarität orientiert sich häufig weniger an der objektiven Schwere von Menschenrechtsverletzungen, sondern ist vielmehr durch politische Narrative, mediale Präsenz und kulturelle Nähe geprägt. Politische Allianzen, ideologische Präferenzen sowie historische und kulturelle Verbindungen beeinflussen maßgeblich, welche Gruppen Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten.Besonders widersprüchlich ist das weitgehende Schweigen in gesellschaftlichen Milieus, die sich selbst als antirassistisch und progressiv definieren. Diese Diskrepanz lässt sich zum Teil durch die Komplexität der politischen Kontexte erklären, in denen Solidarität oft als strategisches oder symbolisches Kapital fungiert. Hinzu kommt, dass innerhalb der muslimischen Community blinde Flecken bestehen: Die Gewalt islamistischer Gruppen gegen religiöse Minderheiten wird nur selten explizit benannt oder kritisiert. Zugleich bestehen stereotype und stigmatisierende Vorstellungen, die diese Minderheiten marginalisieren und als abweichend oder unorthodox klassifizieren. Diese ambivalenten Haltungen verdeutlichen, dass Solidarität nicht allein ein Ausdruck moralischer Haltung ist, sondern auch von sozialen Identitäten, Machtverhältnissen und politischen Interessen mitbestimmt wird.Eine ähnliche Zurückhaltung zeigt sich in der deutschen Medienlandschaft. Aus Sorge, als rassistisch wahrgenommen zu werden, wird der Begriff „Islamismus“ häufig vermieden oder nur zurückhaltend verwendet, selbst wenn es sich um klar definierte und weithin anerkannte extremistische Gruppierungen wie die HTS oder den IS handelt. Diese vorsichtige Sprachwahl ist oft gut gemeint und resultiert aus dem berechtigten Bestreben, pauschale Stigmatisierungen muslimischer Gemeinschaften zu vermeiden und die Differenzierung zwischen Religion und politischem Extremismus zu betonen. Allerdings birgt diese Zurückhaltung die Gefahr einer Verharmlosung der zugrundeliegenden Gewaltphänomene. Wenn klare Begriffe und präzise Benennungen fehlen, wird die Realität der Gewalttaten und ihrer Opfer unsichtbar gemacht. Die mangelnde Benennung extremistischer Gewalt erschwert somit eine angemessene öffentliche Wahrnehmung und eine fundierte Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen dieser Gewalt. In der Folge werden die betroffenen Minderheiten in ihrer Situation oft allein gelassen, da ihre Erfahrungen und ihr Leid nicht ausreichend sichtbar gemacht werden. Dieses Phänomen verdeutlicht, wie sprachliche Zurückhaltung, obwohl gut gemeint, unbeabsichtigt dazu beitragen kann, strukturelle Probleme zu verschleiern und notwendige Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen zu behindern. Eine ausgewogene Berichterstattung erfordert daher eine differenzierte, aber auch klare Benennung extremistischer Gewaltakte, um sowohl einer Stigmatisierung muslimischer Gemeinschaften vorzubeugen als auch den Opfern gerecht zu werden und der Gewalt wirksam entgegenzutreten.Es bedarf einer eindeutigen und konsequenten Haltung seitens der Gesellschaft, die Solidarität nicht nur als abstraktes moralisches Konzept, sondern als verbindliche Verpflichtung versteht. Eine solidarische Gemeinschaft darf nicht tatenlos zusehen, wenn das Leben von Minderheiten in akuter Gefahr steht. Die Situation der Drusen in Syrien symbolisiert exemplarisch jene Gruppen, deren Leid im Spannungsfeld geopolitischer Interessen und struktureller Vernachlässigung marginalisiert und zum Schweigen gebracht wird.