Finn Löffler studiert Literatur- und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin
Fast ein normaler Freitagnachmittag in Berlin-Mitte: Touristengruppen drängeln sich auf den schmalen Bürgersteigen um den Hackeschen Markt. Im Frühherbst schon mit Winterjacke, aber noch immer mit Sonnenbrille auf der Nase versuchen sie, die Unmengen an Plastik- und Papier-Einkaufstüten in ihren Händen unter Kontrolle zu halten. Ein Mittzwanziger will uns für einen Probemonat in einem Fitnessstudio anwerben, aber meine beste Freundin ist voller Angst, ihr Blick ist gesenkt, die Augenringe tief – sie hat kaum geschlafen. Aus der Ferne erklingt eine Sirene und wenig später düst ein Polizeiwagen an uns vorbei, keine Seltenheit in Berlin, aber unser erster Gedanke ist: Richtung Neue Synagoge oder jüdische Schule? Aber keiner spricht es aus.
Auf der Brust meiner besten Freundin rasselt heute nicht wie sonst ihre Kette mit Magen-David-Anhänger, auch ihre Ohrringe, geziert von so fein gearbeiteten Davidsternen, dass man sie nur aus nächster Nähe erkennt, verweilen in einer Schmuckschatulle – und keiner weiß für wie lange. Ihr Handy vibriert – es ist jederzeit griffbereit dieser Tage – und eine Nachricht ihres Vaters informiert sie über eine Entführung, die in einem Berliner Restaurant mit jüdischen Inhabern am Vorabend stattgefunden haben soll. Ihre Augen werden glasig, nach kurzem Verweilen, während um uns der Stadttrubel ungestört fortdauert, begleite ich sie nach Hause: lieber im öffentlichen Verkehr als in einem Uber, wo der Fahrer ihren jüdischen Namen bei der Bestellung erkennen könnte; auf zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen dieser Art weißt man sich dieser Tage unter Juden gegenseitig hin.
Während der ganzen Fahrt fürchte ich, dass auch an ihrem Haus ein Davidstern aufgesprüht wurde, wie es schon an einigen Häusern mit jüdischen Bewohnern geschehen ist. Wir reden nicht in der Öffentlichkeit über ihre Ängste, um unsere Freundin, die erst vor wenigen Tagen aus Tel Aviv zurück nach Deutschland geflogen ist, in einem Flugzeug, aus dessen Fenstern man Raketen aus dem Gazastreifen fliegen sehen konnte, oder über ihre Tante und ihren Cousin in Israel, mit denen sie tagtäglich telefoniert und um deren Leben sie fürchtet. Die Angst ist überwältigend groß unter meinen jüdischen Freunden und ich fühle mich völlig ohnmächtig. Erst vor wenigen Wochen habe ich sie zu Jom Kippur in die Frankfurter Westend Synagoge begleitet und zu diesem Anlass zwei Anhänger geschenkt bekommen: einen mit dem Chai Symbol vor der Klagemauer, einen in der Form Israels. Auch ich soll die Kette unter mein T-Shirt ziehen, schreiben sie mir.
Am Vortag habe ich auf Instagram Stellung bezogen gegen den Aufruf der Hamas, offene Gewalt gegen Juden und Synagogen zu verüben – aber keiner meiner jüdischen Freunde ist dadurch sicherer als zuvor. Sie fühlen eine Unsicherheit, wie sie sie nur aus Film und Fernsehen, Geschichtsbüchern, Zeitzeugenberichten oder den Erzählungen ihrer Groß- und Urgroßeltern kennen. Sie laufen durch die Straßen Deutschlands und die Stolpersteine erinnern sie nicht mehr nur an das Geschehene, sondern an ihre eigene Bedrohung. Am frühen Abend erhalte ich einen Anruf von einem meiner Freunde. Er fragt mich, ob er an diesem Abend in einem israelischen Restaurant wie üblich bartendern soll. Ich rate ihm eindringlich: „Nein, die Gefahr ist zu groß. Du weißt nicht, ob dir davor jemand auflauert. An jedem Tag, nur nicht heute.“ Der letzte Satz suggeriert eine bevorstehende Besserung der Lage, die naiv und von einem Optimismus getragen ist, den einige meiner jüdischen Freunde nicht aufgeben wollen, andere längst oder anlässlich der jüngsten Ereignisse aufgegeben haben. Letztlich entscheidet sich das Restaurant, wenige Stunden später an diesem Tag geschlossen zu bleiben.
Das jüdische Leben in Deutschland verschwindet für einen Tag gänzlich aus der Öffentlichkeit. Wird wieder einmal Jüdisch-Sein aus Angst nur hinter verschlossenen Türen stattfinden können? Und trotzdem lassen sich manche nicht die Stimme nehmen. Mein Freund Noam Petri bezieht öffentlich in einem ZDF-Interview Stellung und in den Kommentaren im Internet wird ihm Übelstes angedroht – ich bestaune seinen Mut und mache mir zugleich Sorgen.
Einen Monat nach dem 7. Oktober findet auf dem Pariser-Platz eine Gedenkveranstaltung an die Opfer der Terrorattacke statt. Ich stehe in einer Reihe mit meinen jüdischen Freunden, von denen zwei am besagten Tag in Tel-Aviv waren und letztlich nach anderthalb Wochen und unter großem seelischen Stress ausgeflogen wurden. Eine von ihnen besucht eine Gruppentherapie: sie fühlt sich als Flüchtende. Es ist totenstill nicht nur aus Respekt und Bedrücktheit, sondern auch auf Grund der geringen Zahl der Anwesenden. Wir umarmen uns und auf dem Weg nach Hause ergreift mich eine Wut, die sich meine jüdischen Freunde nicht erlauben; vielleicht weil sie es satt sind, von ihren Freunden Mitgefühl und Verständnis einklagen zu müssen, vielleicht aus Enttäuschung, vielleicht weil ihre Erwartungen so oft enttäuscht wurden, dass sie sich damit arrangiert haben… Ich bin der einzige Goyim aus unserem erweiterten Freundeskreis, der sich an diesem Tag zeigt. Und ich verstehe es nicht…
Auch heute nicht, nachdem ein Jahr seit dem 7. Oktober vergangen ist.
Man hat sich arrangiert. Mit Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden, den Nachrichten über tote Geiseln, mit leeren Versprechen, scheiternden Verhandlungen, verebbenden Solidaritätsbekundungen, zunehmender Kritik, mit immer wieder drohenden Kriegsausbrüchen und Raketenalarmen. Die Mehrheit meiner jüdischen Freunde meidet dieser Tage das Thema – die Verdrängung des Kriegsgeschehens und des ansteigenden Antisemitismus in der Bundesrepublik geht mit der Verdrängung der eigenen Identität einher.
Ein tragischer Weckruf ist ein Vorfall, der sich vor einigen Monaten auf einer Spreefahrt ereignet hat: Meine Freundin, die damals aus Tel Aviv floh, tanzt im Kreise ihrer Freunde auf einer Bootsparty zu rhythmisch brummenden Housebeats, als ein alkoholisierter Bekannter auf sie zukommt. Er besteht, trotz mehrfacher Aufforderung ihrerseits, dies zu unterlassen, auf einer Diskussion über den Krieg in Gaza, beschuldigt sie, eine deutsche Jüdin, nicht nur persönlich für die dortigen Kampfhandlungen verantwortlich zu sein, sondern auch für die Aggressionen gegen den Staat Israel und für Juden in der Diaspora. Sie ist sprachlos und bricht unter Tränen zusammen.
Sprachlos bleiben auch die meisten Umstehenden. Und jene, die intervenieren, beginnen gleichsam, seine Aussagen zu relativieren: Ihre Reaktion wird als überzogen, wenn nicht gar „ungerechtfertigt“ wahrgenommen und das Leid der Menschen in Gaza als Argument dafür herangezogen. Längst ist israelisches Regierungshandeln und militärische Einsätze der IDF zur Rechtfertigung für antisemitische Aggressionen gegen Diaspora-Juden geworden – die zuweilen schlichtweg in die Unterstützung terroristischer Organisationen
umschlägt. Sinnbildlich ist sie die einzige Jüdin auf diesem Boot, umringt von Bekannten und Freunden, die sich unter dem feigen Scheinargument der „Neutralität“ nicht nur unsolidarisch, sondern empathielos und asozial zeigen. Die nicht-jüdischen Deutschen, privilegierte Bildungsbürger-Kinder mit Bachelorabschlüssen und Volunteering-Aufenthalten in Krisengebieten, schweigen nicht nur, sie tanzen weiter. Es sind zuweilen ihre Freunde. Und wie viele andere Jüdinnen und Juden kann sie sich nicht zu einer angemessenen Konsequenz durchringen. Vorwürfe will sie Ihnen nicht machen, Mitgefühl und Verständnis nicht einfordern müssen – es geht um mehr als eine moralisch gebotene Haltung, es geht um einen Freundschaftsdienst, dentrotz der prekären Lage viele Nicht-Juden nicht bereit zu leisten sind.
Es enthüllt sich die unendliche Leere in dem „Nie wieder“, ein Versprechen, dem sie sich nicht verpflichtet fühlen, weil sie selbst es nie gaben. Es entblößt eine erschütternde Realität: Wenn sogar jene schweigen, jene sich aus dem Diskurs zurückziehen, die nicht unmittelbar bedroht sind, selbst wenn sie eine Nähe zu den Betroffenen haben, wie sollte jemals die Solidarität der Anderen über eine viel zu einfach ausgesprochene oder niedergeschriebene Präambel hinausgehen? Es muss wieder von uns, den nicht-jüdischen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, persönlich und explizit gefordert und eingeklagt werden. Dies ist zwar ein fatales Zeugnis der mangelnden Einsicht aus der Shoah und den Schrecken totalitärer Herrschaften auf dem blutigen Boden, auf dem wir den Alltagsgeschäften unbekümmert nachgehen, weil weder eine Davidsternkette noch eine Kippa uns ausweist, aber es darf kein Grund zur Resignation sein.
Zu lange vermied man den Ausdruck der „deutschen Schuld“, weil man ihn wohl für „unzumutbar“ hielt; heute scheint von ihr nichts übrig außer einem zahnlosen Gewissensbiss. Aus Ohnmacht und voller Scham richte ich diesen Text auch an Jüdinnen und Juden.
Mein Engagement speist sich zum einen aus einer richtigen Erziehung, guten Lehrern und vielleicht auch schlichtweg einem intakten Geschichtsverständnis, zum anderen aus dem Privileg, eine breite jüdische Gemeinschaft in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main und heute in Berlin zu haben, die mich immer unterstützt hat, immer offen war. Die mir von der jüdischen Kultur und ihrem Leid, ihren eigenen Erfahrungen und denen ihrer Angehörigen berichtet haben… sobald ich nachgefragt habe.
Das Warten auf das Interesse der Anderen hat sich allerdings oft als vergeblich erwiesen – die Rücksicht auf die Anderen als ertraglos. Vielleicht bedarf es schlichtweg der Erziehung der Anderen. Vielleicht darf man nicht auf die Fragen warten, sondern mit Antworten beginnen; die Vorwürfe aussprechen, den Freundschaftsdienst einfordern, die Einladungen versenden – nicht um auf eine Anerkennung des eigenen Leids oder eine Zusage hoffen zu müssen, sondern um wieder Scham und Pflichtgefühl zu mobilisieren. Es ist bequem geworden, sich nicht mit Jüdinnen und Juden zu solidarisieren. Werft euren Freunden Ketten um, wie man sie mir umgeworfen hat – mögen sie auch die Anderen ermahnen, wie sie mich jeden Tag an mein Versprechen gegenüber meinen Freunden erinnern. Schleift eure Zähne, beißt zu! Und den nicht-jüdischen Lesern rufe ich zu: Schämt euch – aber funktionalisiert die Scham, um laut zu werden, um meine erschütterte, weinende Freundin in den Arm zu nehmen, wenn ich es nicht tun kann! Der Gewissensbiss muss eine offene, blutende Wunde sein!