Tamar Kadish und Richard Ettinger
Nach dem 7. Oktober habe ich meine in Israel lebenden Familienangehörigen eindringlich gebeten, für eine Weile nach Deutschland zu kommen. Es sei derzeit sicherer hier bei uns. Beide politischen Lager meiner Familie – links und rechts – lehnten es dezidiert ab.
„114 Tage, wiederholt meine Cousine Tamar, ist sie nun im aktiven Militärdienst. Einen Tag nach den verheerenden Anschlägen auf die israelische Zivilbevölkerung wurde sie einberufen. An den Morgen des 7. Oktobers erinnert sie sich noch ganz genau. Den ersten Raketenalarm um 6 Uhr 30 hatte sie verschlafen. Der zweite gegen 8 Uhr holte sie in die traurige, bittere Realität zurück. Im Fernsehen sah sie die weißen Pick-up-Vans, die inmitten von Städten wie Sderot und Ofakim Jagd auf Juden machten. Sie zweifelte, ob sie nicht vielleicht doch noch träumte. Einfach unvorstellbar der Gedanke, dass die sicher geltenden Städte nicht mehr sicher sein sollten.
Orte wie Ofakim und Sderot waren in den letzten Jahren von der Regierung vernachlässigt worden, erzählt Tamar. Vergangenes Jahr hat sie ihr Studium am Sapir-College, das an den Gazastreifen grenzt, absolviert und kennt viele betroffene Familien. Sie steht mit ihren früheren Kommilitonen in Kontakt und versucht zu helfen, seelisch beizustehen. Doch die Grundstimmung ist angespannt. Dass es überhaupt zu diesem Anschlag kommen konnte, bedeutet für viele, dass die Politik endgültig versagt hat. Ich kenne Tamar und ihre Mutter Eveline sehr gut. Ich weiß, dass sie bis zum 7. Oktober monatelang regelmäßig an Demonstrationen teilnahmen, um eine Umstrukturierung in der Politik zu erreichen. Dennoch dient meine Cousine seit über 114 Tagen Seite an Seite mit Militärdienstleistern aus dem ganzen politischen Spektrum. Sie kämpft für ein Land, gegen dessen aktuelle Regierung sie seit Anfang ‘23 mit mehr als einem Zehntel der Bevölkerung auf die Straße gegangen ist.
„As a nation, as a people, Israelis are the best – they helped each other unconditionally from the first day on.“
So widersprüchlich es auch klingen mag, erscheint es doch eindeutig – dieser Krieg hat das Land auf eine gewisse Weise wieder vereint. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frage stellen sollte, wie sie mit diesem Konflikt umgeht. Denn vielleicht hätte sie selbst keine Antwort darauf gehabt. Als ich es dann doch über die Lippen brachte, antwortete sie sofort, dass es ihr Land sei, welches sie jetzt brauche und alles andere müsse zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden.
In den ersten Wochen gab es viele unterschiedliche Stimmen in den Medien. Wie soll es mit Israel weitergehen? Tamar hatte Sorge, auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln Terroristen zu begegnen. Das ungekannte Gefühl der immanenten Gefahr für Leib und Leben war für viele ein Grund, das Land zu verlassen. In selbstorganisierten Gruppen hier in Berlin wurden Formulare versendet, in denen man sich eintragen konnte, wenn man geflüchteten Israelis einen Schlafplatz anbieten wollte. Der 7. Oktober bedeutete, dass das Versprechen von „never again“ gebrochen wurde. Auf der anderen Seite reisten aus der ganzen Welt Reservisten und Helfer an. So viele, dass einige wieder nach Hause geschickt werden mussten. Tamar meint, dass der Unterschied zwischen Juden in der Diaspora und Juden in Israel in der Tatsache liegt, dass die einen täglich antisemitisch motivierten Anfeindungen ausgesetzt sind und die anderen in Sorge um ihre Sicherheit leben müssen, jetzt mehr denn je.
Ihre Universität lehrt weiter online. Studierende können an der Tel Aviv Universität einen Raum aufsuchen, der von der israelischen Studierendenorganisation ins Leben gerufen wurde, um Unterstützung zu erhalten.
Tamar ist mittlerweile in Jerusalem. Dort strebt sie den Abschluss ihres zweiten Studiums an, das eigentlich am 17. Oktober letzten Jahres beginnen sollte. Doch auch die 114 Tage gehen weiter. In der Einheit „Unit for Technology“ hilft sie Erkrankten sowie Verwundeten und Angehörigen von Verstorbenen. In ihrer Freizeit unterstützt sie, wie viele andere israelische Studenten auch, weiterhin die Familien der Geiseln.
In der Sorge um meine Familie hielt ich es für das Beste, sie eine Weile zu uns zu holen, doch es hätte mir klar sein sollen, dass sie dort trotz aller Widrigkeiten leben und das Land mit allen Kräften verteidigen wollen.