TO RUN TOWARDS THE FIRE

D.

Für jeden Menschen gibt es bestimmte Ereignisse in seinem Leben, die ewig im Gedächtnis eingebrannt sind, sei es der erste Schultag, die Geburt von Neffen und Nichten, die eigene Bar Mitzvah, der Tod der Eltern oder eben der Ausbruch des Krieges. Der 7. Oktober stellt für die meisten Juden auf derWelt eine Zäsur dar, rief er uns doch mit besonderer Brutalität ins Gedächtnis, dass wir nirgendwo und zu keiner Zeit wirklich sicher sind, noch nicht einmal innerhalb der Grenzen des einzigen jüdischen Staates – unserem Land. Jeder von uns wird sich wohl erinnern, wo wir an diesem Shabbat-Morgen waren, dem Tag von Simchat Torah, der doch nur Gutes versprach. Ich wurde unsanft mit der Nachricht vom Ausbruch des Krieges geweckt, schaute auf mein Handy, das überflutet war von Nachrichten. 

Ich sah die Videos der Schergen der Hamas, die Bilder der blutüberströmten leblosen Körper der jungen Soldaten, die im Augenblick des Überfalls nur in Unterwäsche bekleidet aus ihren Betten aufsprangen, sich eine Schutzweste überwarfen und zu ihrenWaffen griffen, nur um sogleich vom Kugelhagel ihrer Leben, die doch gerade erst begonnen hatten, beraubt zu werden. Ich musste unweigerlich an die Übungen während meiner Ausbildung denken, in denen wir probten in 1,5 Minuten unsere Uniform und Ausrüstung anzulegen, bei denen es mehr als einmal vorkam, dass einige ebenso halb angezogen vor die Türen ihrer Zimmer antraten. 

Wie viel Zeit werden diese Jungen gehabt haben, als sie merkten, dass sie überrannt werden? Auf demWeg zu Freunden musste ich an die Propagandavideos der Al-Qassam Brigaden denken, die wir schon vor Jahren sahen, in denen sie eine eigens zu Trainigszwecken nachgebaute israelische Militärbasis überfielen und systematisch jeden Raum mit Dauerfeuer bearbeiteten. Taten wir diese Inszenierungen damals noch als feuchten Traum einer größenwahnsinnigen islamistischen Mördertruppe ab, so wurde nun klar, dass sie sich lange und ernsthaft auf diese Aktion vorbereitet hatten.Wir kannten doch ihre Taktiken.Wie konnte es denn nur sein, dass wir so unvorbereitet waren? 

Schon am nächsten Tag stand ich mit meinen Freunden am Flughafen. Mit uns andere Reservisten, die von irgendwo gehört hatten, dass es bei uns angeblich noch freie Plätze auf der einzigen Maschine, die an diesem Tag in Richtung Tel Aviv starten sollte, geben würde. Die Situation war chaotisch: Es wurde gestritten, wer dringender auf diesen Flug müsste. Gefühlt bestand an diesem Morgen die riesige Gruppe, die sich vor den Schaltern der El Al gebildet hatte, ausschließlich aus Sanitätern und Kommandosoldaten. Ältere Passagiere gaben bereitwillig ihre Tickets zurück, um Platz für uns zu machen. 

Or Yogev (@shabloolim)

קול קרא והלכתי – הלכתי כי קרא הקול

„Eine Stimme rief und ich ging – ich ging, weil eine Stimme rief“, schrieb Hannah Szenes Ende 1942, kurz bevor sie aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina im Auftrag des SOE nach Europa in den Einsatz zog, mit dem Ziel, ungarische Juden vor der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu retten. Bis heute ist ihre Person ein Symbol für jüdischen Heldenmut. Ihre Operation missglückte und nachdem man erfolglos versucht hatte, aus ihr unter Folter Informationen herauszupressen, die andere in unmittelbare Gefahr gebracht hätten, wurde sie 1944 hingerichtet. Auch das ist ein untrennbarer Teil ihrer Geschichte. 

Aber waren wir denn die einzigen, die auch diese Stimme hörten? In meinem Jahrgang rückte lediglich eine einstellige Zahl sogenannter Lone Soldiers aus Deutschland in die Reihen der israelischen Armee ein. Nachfragen bei den für die Rekrutierung zuständigen Stellen ergaben, dass sich daran auch nach Beendigung meines aktiven Dienstes nichts geändert hatte. 

Nach der Landung trennten sich vorerst unsereWege, jeder begab sich zu seiner Einheit und für mich schloss sich eine bedrückende Fahrt Richtung Süden, in den Umkreis von Gaza, an. Ich war wieder Teil einer Gruppe geworden, die mir in manchen Dingen näher als meine eigene Familie ist. Vor Ort wurden wir hautnah mit den herzzerreißenden Schicksalen der Einwohner von Be’eri, Kfar Aza, Nahal Oz, Sderot und der anderen Orte, die an jenem schicksalhaften Tag von den Mördern der Hamas überfallen wurden, konfrontiert. Ein Freund musste am Telefon Zeuge werden, wie seine Großeltern und andere alte Menschen lebendig verbrannt wurden. Andere hatten ihre gesamten Familien und fast alle Freunde verloren. Familien, die noch versuchten zu flüchten, wurden von ihren Mördern eingeholt und noch in ihren Autos erschossen. Bunker, die doch eigentlich Schutz bieten sollten, wurden an diesem Tag zu Todesfallen. Die zuvor so lebendige Region wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem Massengrab. 

Als ich wieder, viel zu früh, nach Deutschland zurückkehrte, war nichts mehr wie es einmal war – ich hatte meinen Vater verloren.