Berlin-Mitte: Es war das Ende einer besonders qualvollen vierstündigen Vorlesung. Reges Treiben, die Anwesenden taten ihr Bestes, um schleunigst aus dem stickigen Raum zu verschwinden. Ich ging auf eine hochgewachsene, brünette junge Frau zu, die ich flüchtig aus der Vorlesung kannte.
– „Wir haben auf Instagram übrigens zwei gemeinsame Bekannte – ich hatte mich damals mit den beiden vernetzt, weil wir derselben Religion angehören“, erzählte ich ihr und achtete zögerlich-hoffnungsvoll auf ihre Reaktion, darauf, ob der kleine Hinweis in meinen Worten Anklang finden würde.
– „Ich glaube, dann haben wir dieselbe Religion“, erwiderte sie ebenso vorsichtig.
– „Also… ich bin Jüdin“, antwortete ich.
Bingo – sie auch. Meine kleine Detektivarbeit hatte vollen Erfolg. Und so begann vor ein paar Monaten unsere Freundschaft, auf zugegebenermaßen leicht absurde Art und Weise.
Aber ganz von vorne.
Mit zehn Jahren wechselte ich von einer jüdisch-orthodoxen Grundschule auf ein nicht-jüdisches Gymnasium. Quasi aus der behüteten Kindheit in den Wilden Westen der deutschen Mehrheitsgesellschaft hinein. Die Zeit, die ich danach in nicht-jüdischen Umgebungen verbrachte (in der Schule, im Studium, bei der Arbeit), vertrieb ich mit einem kleinen Ratespiel, genannt „Jude oder Nicht-Jude?“*. Anhaltspunkte waren der Vor- und Nachname, die Instagram-Accounts, denen die Person folgte – Bonuspunkte für den postsowjetischen Migrationshintergrund. Bei all diesen mentalen Verrenkungen war mir stets bewusst, dass es so viel einfacher sein könnte. Nämlich wenn wir unser Jüdischsein so offen nach außen tragen könnten wie jede andere jener Eigenschaften, die uns ausmachen; so wie unsere Geburtsstadt, unsere Lieblingsbücher, ob unsere Eltern geschieden und ob wir Team Edward oder Jacob sind.
Einige gehen mit ihrem Jüdischsein um wie mit einem Staatsgeheimnis. Andere erzählen sorgfältig ausgewählten nahestehenden Personen davon. Wieder andere stellen sich mit ihrem Namen und Gesicht in die Öffentlichkeit und engagieren sich mutig für unsere Community. Ich persönlich trage mein Jüdischsein in meinem sozialen Umfeld grundsätzlich deutlich nach außen. Wenn ich jedoch in meiner Heimatstadt Berlin unterwegs bin, verschwindet der Davidstern-Anhänger in der Regel im Schatten meines Rollkragenpullovers. Ein bitterer Kompromiss.
Ich komme nicht umhin, mich zu fragen: Können wir in diesem Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit nur verlieren?
Auf der einen Seite merke ich, wie es mir nicht guttut, mein Jüdischsein in nicht-jüdischen Umgebungen einfach wegzulassen. Logistisch gesehen wird es schlicht anstrengend, all diese kleinteiligen Informationen zu registrieren und den gebotenen Umgang mit ihnen zu evaluieren. Sage ich dem netten Späti-Verkäufer nun, wieso ich wirklich nach Gummibärchen ohne Schweinegelatine frage? Erzähle ich neuen Bekanntschaften, in welches Land meine russischen Großeltern in den Neunzigern tatsächlich gezogen sind? Und nun seit fast zwei Jahren vermehrt: Erkläre ich auf besorgte Nachfragen hin, wieso ich heute wieder vor Wut und Trauer kaum atmen kann und unkonzentriert in der Vorlesung sitze?
Aber auch auf einer seelischen Ebene. Wenn ich mich dagegen entscheide, mein Jüdischsein offenzulegen, ist das naturgemäß keine positive Handlung, sondern ein Unterlassen, ein bewusstes Weglassen. Und so entstehen tagtäglich lückenhafte Versionen von mir. Diese Lücken sind eine Routine, sie sitzen mir unangenehm im Nacken und beschämen mich. Sie deprimieren mich! Denn es ist so viel Freude und Stolz, den wir aus dem Jüdischsein ziehen können. Und wie gerne würde ich diese so bedingungslos nach außen tragen wie nach innen.
Auf der anderen Seite allerdings: Geben Jüdinnen und Juden ihre Identität in nicht-jüdischen Sphären offen zu erkennen, laufen sie traditionell Gefahr. Die Gefahr, von Antisemit*innen auf die Nase zu bekommen, von Voyeurist*innen exotisiert zu werden (“Oh, ich war ja noch nie auf einem Date mit einer Jüdin. Ist das dann bei dir so wie bei Unorthodox?”), oder auch plötzlich als offizielle Botschafter*innen der israelischen Regierung repräsentative Stellungnahmen abgeben zu müssen – eine erstaunliche politische Karriere, die wir da innerhalb weniger Sekunden regelmäßig absolvieren.
Und Achtung, es wird noch komplizierter. Denn zur eben beschriebenen individuellen Ebene gesellt sich die kollektive, gemeinschaftliche Dimension hinzu. In meiner anfänglichen Anekdote haben meine neue Freundin und ich uns jeweils individuell als Jüdinnen sichtbar gemacht – aber gleichzeitig haben wir uns gegenseitig gewonnen, als Freundinnen, als „Verbündete“. Etwas archaisch, aber natürlich zutreffend. Da ist eine gewisse Ruhe, gewisse Dinge, die wir uns nicht erklären müssen, ein Selbstverständnis.
Im Laufe des Studiums erlebte ich mehrere dieser Offenbarungsmomente und aus ihnen ist inzwischen eine kleine Community von jungen Jüdinnen und Juden um mich herum erwachsen. Ein kleiner Safer Space, für den wir nicht erst zu unserer Familie, einer Institution oder einer Organisation flüchten müssen, um uns gehört und verstanden zu fühlen (so dankbar ich auch für diese Möglichkeiten bin). Der Pädagoge Dr. Noam Weissman schrieb in einem Beitrag für das Jewish Journal: „The way I see it, this approach [survival as a mission] has actually cost us a community“. Mit Sichtbarmachung geht unweigerlich ein Risiko einher. Indem wir es aber eingehen (müssen), stärken wir unsere Gemeinschaft nach außen und nehmen unsere Zugehörigkeit selbst in die Hand, selbstbewusst und auch ein wenig trotzig. Wir erschaffen uns unsere eigenen Sphären und verweigern uns der Lückenhaftigkeit – genau hier, im Alltag, inmitten des Wilden Westens.
So ermächtigend dieser Gedanke ist, so schmerzhaft kann er sein. Dem Bewusstsein um all dieses Potenzial folgt die Erkenntnis, dass es auch verpasstes Potenzial geben wird. Welcher Mensch um mich herum könnte jüdisch sein oder einen ähnlichen Bezug haben und wir wissen es beide nicht, weil wir uns zufällig beide heute dagegen entscheiden, offen darüber zu reden? Ich erwische mich manchmal dabei, wie ich ein Gefühl von Unzulänglichkeit verspüre. Denn irgendjemand muss schließlich den ersten Schritt machen und dieser Mensch kann ich sein. Auch wenn ich an manchen Tagen einfach müde bin, faul, erschöpft von dieser Dystopie, in der wir leben, in der bereits die Äußerung „Ich bin Jüdin“ zum Politikum gemacht wird.
Resignation und Isolation, ein notorisches Duo.
Ich möchte dabei klarstellen: Es ist eine Schande, dass wir uns diesen Fragen stellen müssen. Klingt wie eine Plattitüde, ist aber ein notwendiger Denkschritt, den wir uns vergegenwärtigen müssen. Sie werden uns auferlegt und bilden insofern einen Teil unserer Lebensrealität, eine reale Verantwortung vor uns selbst und unserer Gemeinschaft. Wir sollten aus dieser Verantwortung aber keine unnötige Härte gegen uns selbst ableiten und in schlechtem Gewissen erstarren. Wer möchte, kann das als Erinnerung daran nehmen, dass wir im Umgang mit uns selbst nicht die Nachsicht verlieren dürfen, die bei so persönlichen und schmerzhaften Überlegungen geboten ist.
Das große Dilemma also. Was für ein Tohuwabohu.
Die Entscheidung dieses Dilemmas gehört zur Lebensrealität eines wesentlichen Teils von Jüdinnen und Juden in nicht-jüdischen Sphären. Sie wird jeden Tag getroffen, verworfen, wieder neu getroffen und mit ihr kommt die Frage, wie wir uns selbst in diesem Aspekt gerecht werden können. Ob wir unserer physischen sowie mentalen Sicherheit Unsichtbarkeit schulden – oder aber uns und unserer Gemeinschaft Sichtbarkeit.
Dieser Artikel soll keine abschließende Antwort finden. Wie denn auch? Zu unterschiedlich sind die Umgebungen, in denen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland bewegen und unter welchen Voraussetzungen wir unser Leben gestalten. Das Dilemma steht und wir müssen für uns selbst eine Antwort finden, jeden Tag. Ich persönlich trage inzwischen eine wunderschöne Kette mit einem Chai-Anhänger, die ich im Jüdischen Museum Frankfurt erworben habe. Die Antisemit*innen können sie in der Regel nicht identifizieren. Die Jüdinnen und Juden um mich herum erkennen sie aber. Und in diesen kleinen Momenten tauschen wir ein leises Lächeln, aus dem unausgesprochen die Verbundenheit unseres Volkes spricht.
*Mein Spiel “Jude oder Nicht-Jude?” kennt übrigens die entsprechende Fortsetzung: „antisemitisch, Ally oder indifferent?“. Aber das ist eine Frage für einen anderen Tag.

