„Ein Hobbyjude“-Wenn dein Jüdischsein von einem Nichtjuden bewertet wird

01/10/24

von Alexander Tsyterer

9. Aw, eine Bratwurst und eine Kippa. Sieht doch jüdisch aus, oder?

Dieses Jahr war es echt eine Herausforderung, den 9. Aw zu überstehen. Die Sonne brannte auf meinem Kopf, mein Magen knurrte und trotzdem musste ich wieder zu einer politischen Veranstaltung rennen. Unser Ministerpräsident kam in die Stadt und zu seinem Besuch wurde ein Sommerfest organisiert. Ich wollte nur den Kretschi hören und mit meiner Teilnahme die Juden repräsentieren. Deswegen trug ich eine Kippa, um es sichtbar zu machen und ein Zeichen zu setzen: Es gibt auch Juden.
Mein Magen machte mir währenddessen schon zu schaffen, aber zum Glück wurden kostenlose Bratwürste verteilt. Leider waren die nicht koscher. War mir aber egal. Jeder ist für sein Koscherverhalten selbst verantwortlich. Am Ende bleiben wir doch alle jüdisch, dachte ich mir. Bis jemand mich mal wieder in die Realität zurückholte. Ein paar meiner „politischen Bekannten“ , würde ich so mal salopp formulieren, hinterfragten mein Jüdischsein in einem Gespräch mit der Frage: „Du bist doch jüdisch, wie kannst du eine Bratwurst essen?“ Ich erklärte, dass ich nicht strikt koscher lebe und gerade dabei bin, mich bewusster koscher zu ernähren. Daraufhin meinte jemand zu dem Typen: „Du musst verstehen, seine Kippa ist nur eine Rolle.“ Der Typ lachte und sagte: „Ach ja, ein Hobbyjude halt.“ Das war nicht das erste Mal, dass ich sowas gehört habe, aber es hinterließ trotzdem einen bitteren Nachgeschmack. Ich blieb still.

Religion, Abstammung und Identität – alles nur Hobby

Ich habe es als sehr traurig empfunden, sowas zu hören, und fühle mich dadurch als Person entwertet. Das hat auch einen leichten antisemitischen Beigeschmack. Da stelle ich mir dann die Frage, ob das Jüdischsein als eine eigene allgemeine nationale Identität angesehen wird. Ich denke es nicht. Wir werden nicht als eine „religiöse Ethnie“ betrachtet, sondern offiziell als eine Religionsgemeinschaft. Was nicht vollständig falsch ist, aber es beschreibt nur die eine Hälfte der Realität.

Stellt euch mal vor, Antisemitismusaufklärung, Jugendarbeit und Gottesdienstleitung in der Gemeinde sowie das einfache Jüdischsein würden als bloße Freizeitbeschäftigung abgetan. Laut Duden ist ein Hobby „eine Beschäftigung, die als Ausgleich zur täglichen Arbeit gewählt wird, mit der jemand seine Freizeit ausfüllt und die er mit einem gewissen Eifer betreibt“. Ganz ehrlich, wenn ich unsere Tätigkeiten seit dem 7. Oktober anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass der Kampf gegen Antisemitismus ein positiver Ausgleich zur täglichen Arbeit geworden ist.

Zur Hochschulleitung gehen und für seine Rechte kämpfen? Alles nur Hobbies. Die jüdische Gemeinschaft zusammenhalten und Strukturen aufbauen, weil wir überall wieder ausgeschlossen werden? Ist wie Tennis. Jeden Tag gegen die Antisemiten ankämpfen. Als ob du jeden Tag Kickboxen machst. In die Gemeinde gehen, für Freunde, Familie und die Gefangenen beten oder einfach kommen, um Minjan zu haben? Ein Strickverein. Einfach sein Recht auf ein sicheres Leben erkämpfen? Alles nur ein einfacher Hobby! Ich kann mir und meinen Freunden wirklich nicht sagen, dass dieses Hobby einem Vergnügen schenkt. Ofek und Rias wissen es allzu gut, wie es uns allen geht. Macht es wie in einem Verein. Seid ein Hobbyjude! Tretet aus und vergisst damit wer ihr seid! Ihr habt dann angeblich eure Ruhe, aber werdet dadurch auch eure Persönlichkeit verlieren.

Der Hobbyjude oder der Nie-Wieder-Jude, aber nix dazwischen.

Dieses Wort „Hobbyjude“ hat nochmal meine Angst bestätigt, dass das Bild von uns und unserer Kultur in Deutschland sehr stark verzerrt ist. Jetzt müssen wir nicht nur zwischen Jude und Nichtjude unterscheiden, sondern auch zwischen ,,seriös” gelebter

„Nie-Wieder-Jude“ und mal aus Spaß sich identifizierter „Hobbyjude“. Ja, sorry, dass ich nicht ihrem „typischen jüdischen Standard“ entspreche. Ich laufe nicht in Schwarz-Weiß mit Pajes (Schläfenlocken) herum. Das betrifft auch nur einen geringen Teil unserer jüdischen Bevölkerung. In der Zwischenzeit, in welcher die Deutschen ihre eigene Kultur ausleben konnten, wurde das jüdische Leben meiner Eltern in der Sowjetunion verwehrt. Sie konnten sich nicht einfach koscher ernähren, in die Synagoge gehen oder so sein, wie sie es möchten. Eine liebende jüdische Mutter war verpflichtet, zuerst sicherzustellen, dass ihre Kinder nicht mit leerem Magen in die Schule gingen. Aus diesem Grund werden auch manchmal Schweineknochen verwendet, um eine normale Suppe zu kochen. Sowjetunion halt. „Die Religion ist das Opium des Volkes“, würde ein berühmter Jude sagen. Mein Nischel (Karl-Marx-Kopf) nickt dazu nur.

Ich bin echt wütend. Doch leider ist das nicht alles. Auch einige Politiker besitzen solche Denkstrukturen. Sie haben ihr gesamtes Wissen über das Judentum aus der Sendung mit der Maus. Wow, sie wissen, dass ich kein Schweinchen essen darf. Top!
Das sind Leute, die als Erste zu Gedenkveranstaltungen zu uns kriechen, ein paar Fotos machen und am Ende wieder mal meine verhassten zwei Wörter „Nie wieder!“ rausbläken. Dann sitzen sie mit mir und meiner Holocaust-Überlebenden Renate Aris an einem Tisch. Ich bestelle mit meiner Kippa ein Schnitzel und meine Holocaust-Überlebende ein Würzfleisch. Sie beobachten uns mit weit aufgerissenen Augen wie Guppys, als ob es ein Kulturschock wäre. Am Ende ermahnen meine Holocaust-Überlebende und ich uns gegenseitig ironisch, dass das, was wir gegessen haben, nicht koscher war. Die denken wohl auch, dass wir nur hobbyjüdisch sind. Ihre Reaktionen waren köstlich und das Schnitzel auch.

Sie haben einen passenden geframten Nie-Wieder-Juden für sich gezeichnet und es reicht für die aus, um auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Dann nehmen sie das schon gelernte und verwenden es als eine Schablone für andere Juden. Daraus resultiert dann die Wertung. Aber, dass es eine Fifty Shades of Jewishness gibt, interessiert auch keinen. Warum denn wohl? Es wird an uns nur erinnert, wenn wir angegriffen werden oder sie Fotos für seinen 900-1000 Instagram-Followerschaft aus einem Gedenkveranstaltung braucht. Wir sind doch keine Antisemiten, weil wir ein paar tote Blumen für tote Juden hinlegen, aber dennoch lebende Juden für ihren nicht so jüdisches Erscheinen und Lebensverhalten kritisieren. Liebe Hobbyjuden-Experten, ich schlage ein Challenge fuer euch vor. Läuft auf der Straße offen mit der Kippa herum, haltet alle Koscher-Gesetze ein und hört euch jeden Tag an, dass Juden nicht existieren sollten. Danach können wir nochmal sprechen.

Fazit:

Es stinkt echt nach Deborah Feldman-Vibes, aber aus der Perspektive einer deutschen Kartoffel. Allgemein war es für die meisten postsowjetischen Juden schwer, ihre Jüdischkeit zu bewahren, und wir können wirklich stolz bzw. glücklich sein, dass wir jetzt die Möglichkeit haben, uns zu zeigen. Meine Mäuse, Ihr müsst niemandem außerhalb unserer deutsch-jüdischen Community – egal ob Zids like Deborah Feldman (russische abwertende Wort fuer Jude) oder Nichtjuden – nachweisen, dass ihr jüdisch seid. Kein unkoscheres Schwein hat das Recht, über eure Identität, eure Religion oder eure Abstammung zu urteilen, wenn es keine Ahnung von jüdischer Geschichte, Religion, Kultur oder eurer persönlichen Geschichte hat. Und nein, die Sendung mit der Maus, auch wenn ich sie sehr liebe, reicht nicht aus, um unsere komplexe Gesellschaft zu verstehen.
Lasst euch nicht in irgendwelche Standards einordnen. Das Judentum ist nicht nur schwarz-weiß wie ein Chassid (no front), sondern auch kulturell und religiös sehr vielschichtig. Provoziert mit eurer Erscheinung. Ich und ihr seid keine Hobbyjuden, sondern Juden mit Hobbys und mit Verantwortung. Unser Jüdischsein ist ein Teil von uns oder ist die Identität itself.
Was die Leute betrifft, die denken, dass ich oder jemand von uns Hobbyjuden sein können: Lieber bin ich in deren Augen ein Hobbyjude und mache meine Arbeit bzw. lebe mein Leben mit Verantwortung und Verpflichtung, statt mich verantwortungslos und hobbyhaft als

Politiker bzw. Aktivist auf Befehl hinzustellen und mir das Lied über Nie wieder vorsingen. Deshalb: „Stay jewzy, habibis!“