Die Irrelevanz jüdischen Leidens

Jüdisches Leid zählt nicht. Zumindest zählt es nicht mehr. Vielleicht war es auch nur eine Illusion, dass es je gezählt hat. Seit dem 07. Oktober 2023 wissen wir, es ist nichts wert. 

Jüdische Tränen werden ignoriert. Jüdischer Schmerz begraben, schnell ein wenig Erde über ihn geschüttet, damit er nicht mehr so stört. Jüdische Tote nur beachtet, wenn man sich durch sie als guter Mensch darstellen kann, aber auch nur, wenn sie der Shoah zum Opfer fielen. Ansonsten sind jüdische Tote anstrengend, nerven, sind unbequem. Jüdische Tote sind den meisten Menschen noch nicht einmal eine Fußnote wert. Noch nicht einmal einen leeren Gedanken. 

Und wenn man sie doch erwähnen muss, weil ihre Anzahl so hoch, ihre Tode so schrecklich, gewaltsam und sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrennend waren, dann weiß man sich zu helfen. 

Man muss am 2. Jahrestag des genozidalen Angriffs der Hamas auf Israel, an dem rund 1200 Frauen, Kinder, Väter, Senioren und junge Menschen grausam getötet und entführt wurden zwar erwähnen, aber keine Sorge es gibt da einen Ausweg sich jüdischem Leid, sich jüdischem Trauma nicht widmen zu müssen – man schreibt einfach darüber, wie der Staat Israel dieses Massaker an dem so viele Juden wie seit der Shoah nicht mehr innerhalb eines Tages ermordet wurden, hinterhältig ausnutze und als Rechtfertigung diene, wie es die Süddeutsche Zeitung tut. Einen solchen Artikel, ausgerechnet am 7. Oktober zu veröffentlichen, ist an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Doch es geht. 

Denn einen anderen Weg jüdisches Leid auszublenden, zeigen mit bemerkenswerter Selbstgerechtigkeit und moralischer Selbstüberhöhung zig Influencer auf. So auch eine selbsternannte Dichterin, die ein Video hochlädt, mit der Überschrift „7. Oktober gebrochenes Herz-Emoji“. Wer jetzt denkt, oh, hat da etwa jemand einen moralischen Kompass und ist der Empathie gegenüber der Ermordeten fähig und sich schon innerlich angegriffen fühlt, weil jüdische Tote Beachtung finden könnten – bleibt unbesorgt. Natürlich nicht. Nein, in diesem Gedicht geht es um Gaza und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung, um Enissa Amani und darum, wie die Poetin damit ringt, dass 4 Stunden von ihr entfernt Menschen in Gaza leiden. Mit jüdischem Leid hingegen scheint sie nicht zu ringen. Auch nicht am 2. Jahrestag des 7. Oktober. 

Jüdisches Leiden zählt nicht. Es darf nicht zählen. Sonst müssten sich sehr viele Menschen plötzlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie doch einige Gemeinsamkeiten mit ihren Großeltern und Urgroßeltern haben. Mit der Tatsache, dass Antisemitismus, das „Gerücht über die Juden“, eben nicht nach Ende des 2. Weltkriegs aufgehört hat zu existieren. Dass Deutschland nicht von dem Gedankengut „befreit“ wurde, dass über 6 Millionen Juden das Leben kostete. Dass sie selbst nichts anderes sind als Antisemiten. Egal wie antifaschistisch, globalisiert, progressiv und gutmenschlich man sich gibt – wer jüdisches Leid ignoriert, wer es nicht in sich findet Juden zu betrauern und für die noch 48 sich in Tunneln unter Gaza befindenden Geiseln einzutreten, darf sich gerne ein neues Buzzword in seine Instagrambio schreiben: Weltbürger. Aktivist. Antisemit.