Das verschwundene jüdische Leben – ein verdrängtes Kapitel in Syrien und Irak

Es ist ein regnerischer Abend in Tübingen. Auf dem Heimweg von der Universität sprechen wir, zwei “junge“ Männer, mit Wurzeln aus den syrischen und irakischen Teilen Kurdistans, über ein Thema, das uns seit Jahren begleitet: Die systematische Unterdrückung von Minderheiten, insbesondere von Kurd:innen und Jesid:innen, in unseren Herkunftsländern. Begriffe wie Krieg, Vertreibung und Genozid sind für uns keine abstrakten Konzepte, sondern tief in unseren Biografien verankert.

Obwohl wir aus unterschiedlichen Ländern stammen, stellen wir immer wieder Gemeinsamkeiten fest: in der Sozialisierung, in politischen Erzählungen und sogar im Alltagshumor. In einem Gespräch über die fehlende Erinnerungskultur und historische Darstellungen, bspw. etwa die Figur Eberhards am Rathaus in Tübingen, entstehen Assoziationen zu autoritären Symbolen aus unserer Vergangenheit, die uns erneut zum Thema der Baath-Partei führen. Diese Partei prägte in Syrien wie im Irak eine gesamte Generation durch ihre autoritäre Herrschaft, ihre arabisch-nationalistische Ideologie und ihren repressiven Umgang mit Minderheiten.

Dabei wird uns immer wieder bewusst, wie wenig öffentliches Wissen über das jüdische Leben in unseren Ländern existiert. Warum ist diese Geschichte so wenig sichtbar? Diese Frage, die uns seit Langem beschäftigt, bildet den Ausgangspunkt unserer Auseinandersetzung mit dem verdrängten Kapitel jüdischer Geschichte in Syrien und im Irak.

Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches stürzte die MENA-Region in eine tiefgreifende Identitätskrise. In dieser Phase suchten verschiedene politische Kräfte nach ideologischen Antworten auf den Verlust kolonialer wie kultureller Orientierung. Besonders der arabische Nationalismus entwickelte sich zu einer dominanten Bewegung: Er versprach die Einheit aller Araber:innen in einem gemeinsamen Nationalstaat; ein Projekt, das in mehreren Ländern durch Militärputsche vorangetrieben wurde. In Syrien und im Irak fand diese Vision Ausdruck in der Baath-Partei, die neben der arabischen Einheitsidee auch die „Befreiung Palästinas“ als politisches Hauptziel propagierte. Beide Ideale dienten zunehmend als Legitimationsinstrument für Repression, Machtanspruch sowie autoritäre Herrschaft.

Die Baath-Partei wandelte die Schulen vom Ort des Lernens zu einem Ort voller Propaganda. In allen Schulklassen war die arabisch-nationalistische Baath-Präsenz sichtbar. Dort mussten die Schüler:innen die „unsterblichen“ und „unantastbaren“ Sprüche der Assad-Familie und Saddam-Hussein auswendig lernen und rezitieren. In der sogenannten Nationalfachkunde, deren Beherrschung zum Bestehen der Schule notwendig war, wurden Feindbilder und Ideale konstruiert, Kulturen der Minderheiten vernichtet und die Baath-Herrschaft legitimiert. Nie lernten die Schüler:innen, dass jüdische Menschen in diesen Ländern lebten und die Kultur bereicherten. Jüdinnen und Juden wurden lediglich durch die Brille des Nahost-Konflikts wahrgenommen. Die „Befreiung Palästinas“ wurde zum ideologischen Vorwand für die Entrechtung der eigenen jüdischen Bürger:innen. Jüdinnen und Juden wurden pauschal verdächtigt, mit Israel zu sympathisieren oder gar zu kollaborieren. Man warf ihnen Spionage und zersetzende Einflussnahme auf die Gesellschaft vor. 

In Syrien lebten drei bedeutende jüdische Gemeinden: in Aleppo, Damaskus und Qamishlo, letztere mit einer starken kurdisch-jüdischen Präsenz. Das jahrhundertealte jüdische Leben in Syrien war über lange Zeit fester Bestandteil des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Gefüges. Jüdische Menschen spielten eine wichtige Rolle bei der Bildung syrisch-nationaler Identität. So war Youssef Linado im Jahr 1919 der erste jüdische syrische Abgeordnete im Parlament.

Ein Wendepunkt bei der systematischen Vertreibung jüdischer Menschen war die Reaktion auf den UN-Teilungsplan für Palästina im Jahr 1947. In mehreren syrischen Städten kam es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen jüdische Gemeinden, insbesondere in Aleppo. Infolge wurden dabei mehrere Menschen getötet und hunderte verletzt. Synagogen, Schulen, zahlreiche Geschäfte und mehrere Wohnhäuser wurden zerstört oder in Brand gesetzt. Auch eine wertvolle mittelalterliche Thora-Rolle ging in diesen Tagen verloren. Aufgrund der Gewalt floh rund die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Aleppos aus der Stadt. Viele von ihnen emigrierten in die USA, andere suchten Schutz in Damaskus. 

Ein weiteres antisemitisches Attentat folgte kurze Zeit später, im Jahr 1949: Eine arabisch-nationalistische Gruppe verübte einen Bombenanschlag auf die Minshara-Synagoge in der Altstadt von Damaskus. Dabei wurden 12 jüdische Syrer:innen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Syrische Jüdinnen und Juden wurden zunehmend nicht mehr als Teil der eigenen Gesellschaft wahrgenommen, sondern als vermeintliche Vertreter:innen des israelischen Staates. Diese Gleichsetzung führte zur Konstruktion eines Feindbildes, das durch antisemitische Narrative in den staatlich kontrollierten Medien massiv verstärkt wurde. Diese Gewaltereignisse gelten als Beginn des Verschwindens des jüdischen Lebens in Damaskus. 

Heute leben schätzungsweise weniger als zehn Jüdinnen und Juden in Syrien. Damit ist nicht nur eine religiöse Minderheit nahezu ausgelöscht worden; auch ein bedeutender Teil der syrischen Kulturgeschichte ist verloren gegangen. Die Leerstelle, die das verschwundene jüdische Leben in Syrien hinterlassen hat, ist nicht nur ein historisches, sondern auch ein kulturelles und menschliches Defizit für ein Land, das von seiner Vielfalt lebte.

Der Irak war über 2.500 Jahre lang die Heimat einer der ältesten jüdischen Gemeinden in der Region. Bereits seit dem Babylonischen Exil lebten Jüdinnen und Juden in Mesopotamien. Noch in den 1940er Jahren zählte die jüdische Bevölkerung des Landes rund 135.000 Menschen, etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten lebten in Bagdad, aber auch in Städten wie Basra, Mossul und Karbala waren jüdische Gemeinden fest verankert.

Jüdinnen und Juden spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben des modernen Irak. Zu den herausragenden Persönlichkeiten zählte Sassoon Eskell, der als Minister und Parlamentsmitglied hohes Ansehen genoss. Doch die Toleranz gegenüber Jüdinnen und Juden war nie selbstverständlich, sie hing stets vom politischen Klima und den jeweiligen Machthabern ab.

Bereits Anfang der 1930er-Jahre nahm die antisemitische Rhetorik stark zu. Die engen Beziehungen zwischen irakischen Nationalisten und dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland, insbesondere durch die Einflussnahme des Großmufti von Jerusalem Amin al-Husseini, verankerten den Hass auf die jüdische Gemeinde tief in der Gesellschaft. Die zunehmende Gleichsetzung von „Jude“ mit dem „zionistischen Feind“ bereitete den Boden für systematische Ausgrenzung und Gewalt.

Ein Wendepunkt war das Jahr 1941: Während die jüdische Gemeinde das Schawuot-Fest feierte, ertönten auf den Straßen Bagdads Rufe wie „Tod den Juden! Versklavt sie!“. Zwischen dem 1. und 2. Juni 1941 kam es zum Farhud, einem zweitägigen Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Eine bewaffnete Gruppe, angestachelt durch antisemitische Propaganda, zog durch die Straßen von Bagdad. Über 180 Jüdinnen und Juden wurden ermordet, Hunderte verletzt, zahlreiche Geschäfte und Häuser geplündert oder zerstört. Der Farhud markierte den Anfang vom Ende einer der ältesten jüdischen Gemeinden der Region. Und so weit weg, wie er scheint, ist dieser Pogrom nicht: Die älteste Geisel der Hamas, Schlomo Manzur, der mit 13 Jahren nach Israel floh, war Überlebender des Farhud. Die Hamas tötete ihn und hält seinen Leichen noch immer gefangen.

Nach dem Farhud verschärfte sich die Situation weiter, insbesondere nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 begann der irakische Staat eine systematische Kampagne gegen die jüdische Bevölkerung. Antizionismus wurde gesetzlich verankert, Jüdinnen und Juden wurden unter dem Vorwand der „Spionage für Israel“ verhaftet, und zahlreiche jüdische Männer wurden im Geheimen zum Tode verurteilt oder ohne Verfahren erschossen. Ein weiterer entscheidender Schritt zur Vertreibung und Verfolgung war das Ausbürgerungsgesetz von 1950, das offiziell als „freiwillige Maßnahme“ bezeichnet wurde. Doch der gesellschaftliche und politische Druck war so groß, dass viele Jüdinnen und Juden keine andere Wahl sahen, als ihr Land zu verlassen. Den Ausgereisten wurde verboten, ihren Besitz zu verkaufen oder mitzunehmen. Ihr Eigentum wurde konfisziert und als „verlassenes Eigentum“ deklariert. Die enteigneten Besitztümer wurden häufig an arabische Bürger:innen verteilt oder direkt vom Staat übernommen. Die erzwungene Emigration und wirtschaftliche Enteignung führten zu einem dramatischen Verlust des kulturellen und sozialen Kapitals der jüdischen Gemeinschaft im Irak.

Mit der Machtübernahme durch Saddam Hussein im Jahr 1979 – er war bereits seit 1968 als Vizepräsident ein zentraler Akteur des Baath-Regimes – verschärfte sich die Repression nochmals deutlich. Jüdische Identität wurde kriminalisiert, der Briefverkehr nach Israel verboten, jüdische Namen tauchten in den Überwachungslisten des Geheimdienstes auf, und es kam zu öffentlichen Prozessen unter dem Vorwurf des Zionismus oder der Spionage – meist ohne stichhaltige Beweise. Antisemitische Rhetorik diente häufig als Mittel zur innenpolitischen Mobilisierung.

Die jahrtausendealte jüdische Gemeinschaft im Irak wurde durch politische Verfolgung, Pogrome und Zwangsemigration nahezu vollständig ausgelöscht.

Autokratische Baath-Regime bedienten sich antisemitischen Narrativen, die sie aktiv und mit staatlichen Mitteln gefördert haben. Ziel dieser Propaganda war die Verbreitung des Judenhasses, der als Staatsideologie diente. Heute sind beide Regime Teil der Vergangenheit, doch ihr arabisch-nationalistisches Erbe ist weiterhin in beiden Ländern präsent. Heute gehört das offene Sprechen über die systematische Vertreibung jüdischer Menschen weiterhin zu Tabuthemen. So verabschiedete das irakische Parlament im Jahr 2022 ein Gesetz, welches jegliche Verbindung bzw. Kontaktaufnahme mit Israelis unter Strafe stellt – und dafür auch mit der Todesstrafe droht.

Was Jüdinnen und Juden in Syrien und im Irak erlebten, ist Teil einer größeren Geschichte: Der Unterdrückung von Minderheiten durch politische Ideologien, die Einheit versprechen, aber Vielfalt fürchten. Die Auslöschung des jüdischen Lebens ist ein mahnendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn Staaten Identität über Exklusion definieren.

Wenn wir heute in Tübingen durch den Regen laufen, erinnern wir uns nicht nur an unsere eigenen Geschichten. Wir erinnern uns auch an die Geschichten derer, deren Stimmen längst zum Schweigen gebracht wurden, die wir heute wieder hörbar machen wollen.

Duleem Ameen Haji (er/ihm) studiert Medizin. 

Monzer Haider (er/ihm) promoviert in Islamischer Theologie. 

Beide engagieren sich gesellschaftlich und sind Herausgeber der ÇÎYA-Zeitschrift.

Die ÇÎYA-Zeitschrift – von Geflüchteten für Geflüchtete – wurde im Jahr 2024 eigeninitiativ ins Leben gerufen, um eine Bühne für nicht privilegierte, elitäre, hochakademisierte oder journalistische Schreibweisen zu kreieren. ÇÎYA versteht sich als eine Plattform des „bergigen Erzählens“. Der Name, ein kurdisches Wort für „Berg“, steht symbolisch für Schutz, Widerstand und Erinnerung. Unsere Beiträge sind Zeugnisse von Flucht, Hoffnung, Schmerz und Überlebenswillen. Wir begreifen Schreiben als Form von Empowerment und politischer Selbstermächtigung, insbesondere für junge Menschen mit Fluchterfahrung. 

Mehr Informationen unter: Instagram @ciyazeitschrift oder Kontakt@ciya-zeitschrift.de