„Was haltet ihr eigentlich von BDS?“
Die Frage fällt beiläufig zwischen Tomatensoße und Kaffeeflecken auf dem Mensatisch.
Eine Kommilitonin fällt in sich zusammen und sagt: „Boah nee, darüber hab ich gerade echt keine Lust zu reden.“
Ich sitze da mit halb vollem Mund und offener Kinnlade.
Was ich nicht mehr machen werde, ist es zu kontextualisieren. Ich bin es so leid immer gezwungen zu werden ein Gerüst zu bauen und dabei unterbrochen, missverstanden, fehlinterpretiert und angegriffen zu werden. Mittlerweile ist mir das egal. Ich fange einfach ganz oben an. Stehe auf einem Dach. Keine Leiter. Kein Gerüst. Wenn ich falle dann nur weil ihr mich runterstoßt. Mich nicht auffangt. Mich einfach fallen lasst. Sehen wollt wie ich stürze.
Also.. der 7.10, BDS, Free Palestine, Zio Schweine…..
Ich weiß nie, wo ich beginnen soll. Alles passiert auf einmal. Ich verliere den Anfang. Das Ende kann ich schon lange nicht mehr sehen.
Nach einem Moment sage ich aber dann zu meiner Kommilitonin:
„Schön, wie wenig euch auffällt, was für ein Privileg das ist, einfach keine Lust auf solche Diskussionen haben zu dürfen und das Thema damit für sich zu beenden.“
Diese Interaktion ereignete sich in der Mittagspause eines Blockseminars meines Philosophiestudiums. Da der Kurs “Antisemitismus und Rassismus in der Kritischen Theorie” lautete, kam die Frage nicht aus völlig heiterem Himmel. Umso mehr überraschte mich die Antwort einer sonst sehr sensibilisierten Person, die ich als Ally zählen würde.
Ich verstehe, dass nicht jede/r jede Diskussion führen will. Ich verstehe sogar sehr gut, dass viele Menschen von bestimmten Diskussionen maßlos überfordert sind. Ich verstehe auch, dass man sich mal in Ton und Sprache vergreifen kann. Was ich aber gar nicht verstehe, ist, dass diesen Leuten ihr Privileg überhaupt nicht auffällt und dass es für diese Art der Privilegiertheit auch kein Bewusstsein zu geben scheint.
Ich kann mir nicht aussuchen, wann ich von diesen Fragen betroffen bin und wann nicht und musste mir zwangsweise eine Meinung bilden. Denn mich haben immer wieder Leute genau diese Dinge gefragt, sobald sie lernten, dass ich Jüdisch oder eben Israeli bin.
Ein andermal entstand auch diese Chat-Interaktion mit einem Genossi.
G: Hey Joel, kommst du heute zur Demo?
J: Nee, ich schaff es leider nicht. Du?
G: Nee, ich brauch dieses Wochenende mal ne Pause vom Nahostkonflikt. Aber sag mal, hast du Bock mir nächste Woche auf einen Kaffee deine Meinung zum Nahostkonflikt zu erzählen?
Nach einigen Minuten Überlegung konsultiere ich dann doch Jaël.
Jaël: Wieso hast du keine Lust, mit ihm darüber zu sprechen ?
Jaël: Wer ist er denn?
Joel: Ein Goy
Jaël: Wenns n goy ist dann 100% faire abtiert !
Jaël: Antriwety
Jaël: Antwort
Also versuche ich es mal mit etwas Chuzpe und formuliere es dennoch vorsichtig an meinen Goy-Genossi:
Joel: “Nee, ich brauch nächste Woche echt mal ne Pause vom Nahostkonflikt…”
Joel: 😀
Zur Absicherung schicke ich noch einen lachenden Smiley hinterher. Vielleicht versteht er meine Provokation so nett, wie ich sie meinte.
Jaël: Vielleicht wolltest du dir damit aber auch eine Tür offen halten. Das war keine nett gemeinte Provokation.
Eigentlich freue ich mich sehr über Menschen, meine Genossi, die ihre Solidarität zeigen und dafür wichtige Arbeit machen, sodass Jüdinnen und Juden weniger Hass erleben.
Ich will keine Allies vergraulen und bin allen für ihre Hilfe dankbar (nur dann manchmal nicht, wenn ich gar nicht nach Hilfe gefragt habe). Allerdings muss ich diese spezifischen Situationen kritisieren. Denn diese sich (auch im Leben anderer) wiederholende Erfahrung lässt mich deutlich spüren, dass wir nicht im selben Boot sitzen.
Wenn Menschen sagen, dass sie mal eine Auszeit vom Nahostkonflikt, von Antisemitismus und ähnlichen Themen brauchen, dann verstehe ich das sehr gut und sehe darin auch kein Problem. Ich wünsche mir auch so eine Auszeit. Eigentlich hätte ich gerne eine Dauer-Auszeit davon. Aber es bleibt für mich ein Dauerthema. Mein Kopf bleibt gesenkt, aber meine Brust ist stolz nach vorn gestreckt. Ich gehe weiter. Ich weiß nur nicht mehr, ob ich nach vorne gehe. Ob ich nach vorne gehen kann. Ich fühle mich so pathetisch. Bin ich überhaupt berechtigt, mich so zu fühlen? Ist es nicht völlig übertreiben? Darf es mir so schlecht gehen?
Ich kann mir nicht aussuchen, wann es mich betrifft und wann nicht. Wenn Allies dann etwas unsensibles sagen, wie, dass sie keine Lust hätten, sich mit dem Thema zu beschäftigen, dann wirkt das sehr entfremdend auf mich.
Für viele Allies ist diese politische Arbeit ein Interesse, ein Selbstzweck, von dem sie verständlicherweise auch mal Pause brauchen. Aber für uns Jüdinnen und Juden, ist diese politische Arbeit überlebensnotwendig.
Ich habe das Gefühl, dass mir niemand zuhören will. Ich habe auch das Gefühl, dass mir niemand zuhören sollte. Dass es mir an Kompetenz fehlt, mich zu äußern. Dass es Rechtfertigung benötigt, mir Gehör zu verschaffen, sodass sich meine Gedanken im Nichts verlieren. Aber nichts bedeutet in diesem Fall eine überwältigende Menge an Gleichzeitigkeiten. Alles wird nur angerissen, reißt ab, saust an mir vorbei. Sobald ich mich nach einem Gedanken umdrehe, oder ihm sogar etwas näher komme, fühlt sich ein anderer vernachlässigt, nur um mich von hinten zu überwältigen. Ich komme nie bei irgendwem an. Es entsteht eine Plörre aus Emotionen. Ein dekonstruktives Gedankenkarussell, das mich immer alleine zurücklässt.
Es ist kompliziert.
Ich will gehört werden, aber will mich auch nicht immer zu allem äußern müssen.
Ich will selbstwirksam sein und etwas verändern können. Aber ich will auch nicht, dass jedwede Verantwortung und tatsächliche Arbeit nur auf Betroffene fällt.
Ich will nur, dass ihr versteht:
Auch wenn wir in dieselbe Richtung paddeln, sitzen wir nicht im selben Boot. Wenn wir untergehen, könnt ihr einfach weiterfahren.
Zur Entstehung dieses Textes:
Dieser Essay ist entstanden aus zwei ursprünglich eigenständigen Texten von Jaël Lichtenberger und Joel Ben-Joseph. Beide Texte behandelten die gleichen Erfahrungen und Spannungen. Durch ein gnadenloses Lektorat und ein gegenseitiges Rumpfuschen und Ergänzen der Texte, ist ein kollaborativer Text entstanden. In dieser neuen, eigenen Form fließt unsere Arbeit so ineinander, dass nicht mehr zu trennen ist, wer was geschrieben hat.