Über Bilder als Waffen und innere Schutzschilder

Ein jüdischer Mann, bis auf die Knochen abgemagert, soll sich vor laufender Kamera sein eigenes Grab schaufeln. In diesem Video ist die israelische Geisel Evyatar David zu sehen. Es wurde am 01.08.2025 zusammen mit einem weiteren Video von der Hamas veröffentlicht. Einen Tag zuvor veröffentlichte der Palästinensische Islamische Jihad (PIJ) ein Video, das die Geisel Rom Baslavski zeigt.

Geschwächt spricht Evyatar David die Worte aus, die ihm seine Peiniger in den Mund legten. Er zählt die wenigen Nahrungsmittel auf, die er in den letzten Wochen erhalten hat und sagt, die Hamas würde ihm geben, was ihnen zur Verfügung stünde. Doch sagen freigelassene Geiseln, wie Tal Shoham, der zusammen mit Evyatar David gefangen gehalten wurde, in einem weiteren kürzlich erschienen Video, dass die Hamas für ihren Eigenbedarf reichlich Essen gebunkert hat. Kurz erscheint der wohlgenährte Arm eines Terroristen im Bild, um Eyvatar David eine Dose eingelegter Tomaten zu reichen, welche ihn zwei Tage durchbringen soll. Oberhalb der Tunnel sind zu viele Palästinenser:innen verhungert. Die Schuld dafür teilen sich die Hamas und die israelische Regierung.

Mit den Videos bedienen sich die Hamas und der PIJ ein weiteres Mal der altbewährten terroristischen Strategie, Fotos und Videos ihrer Gewalt, als Waffe ihrer psychologischen Kriegsführung, im Internet zu verbreiten. Bewusst wird in dem Video eine Szene geschaffen, die stark an die Shoah erinnert. Die unmittelbare Gewalt, die Evyatar David angetan wird, soll weit über ihn hinaus wirken. Mithilfe des Videos soll sie seine Familie, seine Freunde, Israelis und Jüdinnen:Juden weltweit treffen und (re-)traumatisieren.

Ein weiteres Mal aktualisiert sich das Dilemma: Sollte das Video weiter geteilt werden, um auf das Leid der Geiseln aufmerksam zu machen? Oder lieber nicht, weil dies die Strategie der Hamas stärkt? Oft wird unter Affekt die erste Option gewählt. Einige Male habe ich gesehen, wie das Bild von Evyatar Davids Leid auf zweiter Ebene politisch instrumentalisiert wurde, nämlich aus pro-israelischen Positionen. In diesen Fällen wird es geteilt mit einer Überschrift wie: Es sind unsere Leute, die hungern. Die implizite, manchmal explizite, Fortführung dieses Satzes ist: nicht die Palästinenser:innen. Gleichzeitig erfährt das Video, beziehungsweise die Situation der Geiseln allgemein, kaum Beachtung in breiten Teilen des pro-palästinensischen Spektrums und wenn doch, dann geht dies oft mit Relativierungen und Rechtfertigungen einher. Selbstverständlich ist es immer falsch, das andere‘ Leid zu verharmlosen, um das eigene zu betonen.

Ich wende meinen Blick vom Bildschirm ab und frage mich, wie es in einigen Kontexten zu einer kontroversen Aussage werden konnte, zu sagen, dass niemand Hunger als Kriegswaffe einsetzen sollte und niemand hungern sollte, egal ob Israeli oder Palästinenser:in. Die Hamas versucht, die Geiseln zu Instrumenten zu machen, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn wir gewaltausübende Bilder sehen, dürfen wir uns nicht zu Instrumenten machen lassen, weder in Apathie verfallen, noch in fehlgeleitete Wut. Stattdessen sollten wir, Rezipient:innen gewaltausübender Bilder, solche Inhalte in progressive politische Handlungsmacht übersetzen: für die Freilassung der Geiseln und das Ende des Krieges. Wenn Bilder zu Waffen werden, brauchen wir innere Schutzschilder, die uns trotzdem, über den Affekt hinaus, sehen lassen.