Von Antonia Sternberger
Man kann eigentlich kaum noch Nachrichten konsumieren, ohne mit ihnen konfrontiert zu werden – sogenannten offenen Briefen. Es ist zu einer Art billigem Ersatz für wahren Aktivismus, für wahren Einsatz geworden, seinen eigenen Namen unter ein mehr oder weniger gelungenes Pamphlet zu setzen.
Auch in der letzten Woche erschien wieder ein solcher offener Brief, diesmal um die Bundesregierung um Friedrich Merz aufzufordern, die Waffenexporte an Israel einzustellen, die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel zu unterstützen und mit Nachdruck einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu fordern. Unterzeichnet wurde dieser Appell selbstverständlich von den Nahost-Experten schlechthin – Schauspielern, Sängern, Podcastern, Kulturschaffenden, von Joko Winterscheidt über Jella Haase zu Daniel Brühl.
Sie alle prangern die Hungersnot in Gaza an, aufgewühlt von den Bildern, die in den letzten Wochen die Titelseiten prägten und überschwemmten. Sie alle behaupten, dass Friedrich Merz durch ein „entschlossenes Handeln für die Zivilbevölkerung in Gaza nicht mit deutscher Staatsräson brechen, sondern diese wahren würde.“ Am Schluss, der Aufruf, dass der Bundeskanzler einer der Wenigen sei, der Israel dazu bewegen könne, doch noch den Kurs zu ändern.
Es ist so, dass im Gazastreifen schrecklicher Hunger herrscht und mehr Hilfsgüter an die leidende Zivilbevölkerung gelangen müssen. Ebenfalls stimmt es, dass dieser Krieg unermessliches menschliches Leid verursacht und sich für ein baldiges Ende dieses Krieges einzusetzen nur richtig ist.
Aber dafür ist auch eine Anerkennung der Realität vonnöten. Der Gazastreifen wird von einer Terrororganisation regiert und kontrolliert, die das ganze Gebiet mit Tunneln unterbaut hat, die bereits Kinder und Jugendliche rekrutiert und zum Kampf an der Waffe ausbildet, die den Märtyrertod preist und alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um sich weiter zu erhalten. Die Hamas zweigt seit Beginn der Kampfhandlungen in Gaza massiv Hilfsgüter ab. Einerseits, um sich und ihre Familien davon zu ernähren, andererseits um sie für horrende Preise an die leidende Zivilbevölkerung zu verhökern.
Die Terrororganisation hält noch immer 50 Geiseln gefangen, von denen mindestens 20 noch am Leben sein sollen. Geiseln, die von der Welt vergessen wurden. Vergessen, weil sie Juden sind. Vergessen, weil die Welt bereitwillig in einen antisemitischen Wahn verfällt.
Ebenfalls in der letzten Woche wurden Videos der Geiseln Rom Braslavski und Evyatar David veröffentlicht. Zwei junge Männer, die seit (Stand: 03.08.2025) 666 Tagen in den Tunneln Gazas unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden. Zwei junge Männer, die nicht mehr wiederzuerkennen sind. Sie sind ausgemergelt und körperlich und psychisch zerstört. In einem der Videos wird Evyatar David gezwungen, sein eigenes Grab zu schaufeln. Ein bis auf die Knochen abgemagerter jüdischer Mann wird gezwungen, vor laufender Kamera sein Grab zu schaufeln.
Und die Welt schweigt. Die Politik schweigt. Die Medien schweigen. Die Kulturschaffenden schweigen. Kein Wort des Mitleids, kein Wort der Unterstützung für die Familien von Rom und Evyatar, die sich unaussprechlicher psychischer Folter gegenübersehen. Nur Stille. Jüdisches Leben zählt wieder einmal nichts auf dieser Welt.
Umso schmerzhafter ist der offene Brief. Nicht, weil die Unterzeichner sich um die Zivilbevölkerung und die humanitäre Lage in Gaza sorgen. Nicht, weil sie das Vorgehen der israelischen Armee kritisieren. Das alles tun Israelis Tag für Tag und gehen für ein sofortiges Ende des Krieges auf die Straße. Nein, es ist so schmerzhaft, weil es in dem Weltbild dieser Leute nur einen Schuldigen gibt und der heißt Israel.
Die Mitverantwortung der Hamas wird ausgeblendet, sie existiert nicht. Die Massaker und Massenvergewaltigungen vom 07. Oktober sind in den Köpfen der Unterzeichner nicht präsent. Die Komplexität eines urbanen Krieges, des ius in bello, sowie des Konflikts werden negiert.
Es werden Doppelstandards angewandt, die mich nur noch schütteln. Im Sudan leiden 25 Millionen Menschen an extremen Hunger. Seit dem Beginn des Bürgerkriegs sind über 500.000 sudanesische Kinder elendig verhungert. Zahlen, die so schrecklich sind, dass sie einen verstummen lassen. Wo sind die offenen Briefe für diese Kinder? Wo sind die Hilfslieferungen für diese Kinder? Wo sind die Titelseiten und die 20-Uhr-Nachrichtenaufmacher über das Leiden und den Tod dieser Kinder? Haben sie es etwa nicht verdient erwachsen zu werden, ihre Träume zu verwirklichen und das eigene Leben als Geschenk zu erfahren, anstatt als Unannehmlichkeit?
Doch. Jedes israelische, palästinensische und sudanesische Kind hat das Recht in Frieden und ohne Hunger und Angst aufzuwachsen.
Wenn deutsche Schauspieler und Sänger, die sich wahrscheinlich selbst nie damit auseinandergesetzt haben, was die Großeltern oder Urgroßeltern so in der NS-Zeit angestellt haben, plötzlich meinen von „echter Menschlichkeit“ zu sprechen, habe ich eine Mitteilung an sie:
Echte Menschlichkeit beginnt nicht dort, wo politisches Kalkül endet. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man nicht 80 Jahre nach der Shoah wieder in krassesten Antisemitismus zurück verfällt. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man sich für humanitäres Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza stark macht. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man die Auslöschungsversuche des einzigen jüdischen Staates durch seine arabischen Nachbarn kritisiert. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man sich für jüdische Geiseln und ihre Familien einsetzt. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man den 07. Oktober nicht zu einer bloßen Randnotiz werden und antisemitische Angriffe und Pogrome weltweit nicht verblassen lässt. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man sich vor Augen führt, dass es jeder Konflikt auf der Welt verdient hat, beendet zu werden, damit betroffene Zivilisten nicht unter den Mühlen der Kampfhandlungen zermahlen werden. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man sich für einen Waffenstillstand in Gaza einsetzt UND für die sofortige Freilassung aller Geiseln eintritt. Echte Menschlichkeit beginnt dort, wo man Israelis und Palästinenser nicht mehr als Spielbälle der eigenen Ideologie begreift, sondern als Menschen, die es alle verdienen, in Frieden und Sicherheit neben- und miteinander zu leben.