Zwischen den Fronten

von Ron Dekel

Dieser Text erschien zuerst in der EDA III (September 2025). 

Monatelang kam man in den deutschen Medien an einer Debatte kaum vorbei – einer Debatte, die es sogar schaffte, den Nahostkonflikt zeitweise in den medialen Hintergrund zu drängen. Ein solches Ereignis ist in Deutschland selten. Die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht schaffte es jedoch, Woche für Woche in den größten Talkshows des Landes präsent zu sein und dabei eigene, neue prominente Gesichter hervorzubringen – allen voran Ole Nymon, der mit seinem Buch zu diesem Thema bundesweit bekannt wurde. 

Die Debatte wirkte jedoch in weiten Teilen realitätsfern. Sie schien vor allem von Menschen ohne Migrationsgeschichte geführt zu werden. In einer postmigrantischen Gesellschaft wie Deutschland ist das keine qualitative Aussage, aber es verweist auf eine blinde Stelle: die Lebensrealität jener jungen Menschen im wehrpflichtigen Alter, die Migrationshintergrund besitzen oder deren familiäre Geschichte und Identität besondere Erfahrungen mit deutscher Staatsgewalt einschließt. Besonders vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, verbunden mit einem derzeit wachsenden gesellschaftlichen Klima von Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, ist dies ein eklatantes Versäumnis – gerade bei jenen, die sich ansonsten argumentativ gegen die Wehrpflicht positionieren. Viele Akteure konzentrieren sich auf logistische oder organisatorische Probleme einer Wehrpflicht, ohne die tiefere gesellschaftliche Dimension zu betrachten. 

Denn ein Blick in die Geschichte zeigt: Eine breite „Kameradschaft“, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht, führt nicht automatisch zu gesellschaftlichem Zusammenhalt. Am Beispiel des Ersten Weltkriegs wird das besonders deutlich. 

Rund 100.000 Jüdinnen und Juden zogen damals für das Deutsche Kaiserreich in den Krieg – viele in der Hoffnung, sich durch diesen Einsatz zu assimilieren und endlich als vollwertiger Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden, nach Jahrhunderten der Ausgrenzung. Tausende von ihnen ließen ihr Leben „für das Vaterland“. 

Und dennoch: Es reichte nicht. Als die Stimmung an der Front kippte, suchte man Sündenböcke und fand sie in den jüdischen Soldaten. Man warf ihnen vor, für Versorgungsengpässe verantwortlich zu sein, Kriegsprofiteure zu werden oder nicht loyal zu Deutschland zu stehen. Diese antisemitischen Narrative verbreiteten sich bereits während des Krieges in der Armee und führten schließlich zur sogenannten Judenzählung von 1916. Offiziell sollte sie belegen, wie viele Jüdinnen und Juden tatsächlich kämpften und Gerüchte widerlegen – faktisch verstärkte sie jedoch antisemitische Ressentiments. Denn allein eine solche Zählung ist ein Zugeständnis gegenüber den Gerüchten. 

Auch jüdische Organisationen, darunter Vorläuferinstitutionen des heutigen Zentralrats der Juden in Deutschland, riefen damals zum Kriegsdienst auf. In Synagogen wurde für den Kaiser gebetet. Der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ sah den Krieg sogar als Chance, Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden zu entkräften. Doch die Realität zeigte: Selbst Blutopfer für das Vaterland änderten nichts an der tief verankerten antisemitischen Haltung weiter Teile der Gesellschaft. 

Heute werden Gedenktage wie der Volkstrauertag oder neuerdings der Veteranentag gezielt genutzt, um Militarismus in Deutschland wieder salonfähig zu machen. Symbolträchtig geschieht dies nicht selten an den Gräbern gefallener jüdischer Soldaten. Doch diese Symbolik hat einen bitteren Beigeschmack: Viele dieser Soldaten wären, hätten sie den Ersten Weltkrieg überlebt,

nur wenige Jahrzehnte später mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Gaskammern durch ihre einstigen Kameraden ermordet worden. 

Ganz natürlich gibt es in der jüdischen Community eine Aversion gegenüber der Idee einer Verpflichtung in einer Nachfolgeorganisation der Wehrmacht. Dass immer wieder von rechtsextremen Vorfällen in der Bundeswehr berichtet wird, ist nicht sonderlich hilfreich. 

Ich schließe hiermit nicht kategorisch aus, dass man aus jüdischer Perspektive grundsätzlich niemals in einer Armee dienen sollte, die aus Deutschland kommt. Ich erkenne an, dass es in bestimmten Situationen notwendig sein kann, sich selbst, seine Werte und die eigene Freiheit auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Aber: Der im Grundgesetz verankerte Satz „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ muss weiterhin so ausgelegt werden, dass es eine echte und gleichwertige Alternative gibt. Dies gilt besonders in einer postmigrantischen Gesellschaft – und noch mehr für Jüdinnen und Juden, deren Existenz in Deutschland allein oft schon ein politisches Statement ist und unweigerlich Identitätsfragen aufwirft. Ein erzwungener Dienst in der Bundeswehr würde diese Fragen potenzieren.